Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
Typ. All seine Freundinnen himmelten Sebastian an. All seine Freunde himmelten Sebastian an. Sogar
seine Mutter hatte zugegeben, dass er gut aussähe – das einzig Nette, was sie je über ihn gesagt hatte. Noah hatte nie viel darauf gegeben, aber plötzlich hatte er das
Gefühl, dankbar sein zu müssen. Dankbar dafür, dass ein Kerl wie Sebastian noch immer mit ihm zusammen war.
»Was ein Schrott«, murmelte dieser unter der Stimme und schaltete den Fernseher stumm.
Im Hintergrund lief eine Dating-Show, in der makellose Menschen sich gegenseitig Gemeinheiten an den Kopf warfen und die Noah sich fragen ließ, ob die Welt da draußen mittlerweile
wirklich so aussah.
»Willst du nochmal inhalieren, bevor es weiter geht?«
Noah zuckte die Schultern. »Ich glaube nicht, dass das viel bringt.«
»Der Doktor meinte, es würde helfen, den Schleim zu lösen.«
»Ich weiß, ich war dabei«, sagte Noah tonlos. »Ich hab trotzdem nicht das Gefühl, dass es hilft.«
Ein Stirnrunzeln. »Ich bin heute Morgen noch vor dem Frühstück zu Jeanette gefahren, um zwei Tüten Pfefferminzblätter für deinen Tee zu pflücken. Sie hat ihre
Schicht getauscht, damit sie mich ins Gewächshaus lassen konnte.«
»Ich weiß, Sebastian, und es ist sehr nett von dir und Jeanette, aber es hilft mir trotzdem nicht!«
Noah hatte den Eindruck, dass sich Sebastians Kiefer für einen Moment anspannte und er wünschte sich, dass er es sagen würde. Dass Noah undankbar war und dass er es verdient
hatte. Dass er Schuld hatte und dass er krank war, weil er sich weigerte, aktiv an seiner Gesundung zu arbeiten.
Aber Sebastian sagte nichts dergleichen, er sagte: »Ich hole dir dann wenigstens Wasser. Der Arzt hat gesagt, dass du mehr trinken musst, sonst wirken die Schleimlöser
nicht.«
Dann kam er mit einem Lächeln von der Couch hoch, ließ ihn abhusten und drehte ihn in die nächste Position. Auf dem Bauch liegend und mit dem Kopf auf dem niedrigen
Fußhocker, sah er Sebastian nach, wie er ein weiteres Mal durch die Tür in Richtung Küche verschwand, und fragte sich, ob er wohl zurückkommen würde, aber das war nur eine
weitere Unsicherheit in seinem Leben, über die sie nicht sprechen würden.
Wie hätte er Sebastian sagen sollen, dass er sich unsicher fühlte? Das war das Problem, das sich zwischen sie geschoben hatte: Er war sich nicht sicher, aber dabei ging es gar nicht um
ihn, seinen Stuhl oder seinen Bauch.
Es ging um Sebastian. Er war sich Sebastians nicht mehr sicher und deshalb spürte er die Blicke, hörte er das Tuscheln, sah er die mitleidigen Gesichter auf der Straße. Sebastian
lief weiterhin neben ihm, aber er war nicht mehr an seiner Seite, er berührte seinen Körper, aber er berührte nicht ihn. Früher hatten sie miteinander sprechen können, als
Sebastian sich noch die Mühe gemacht hatte, ihn auf den Dachboden und Noah dort dazu zu bringen, über ihre Probleme zu reden. Noah wusste nicht, wie sie es über Jahre hinweg
geschafft hatten, seine Hilflosigkeit als ein Spiel zu begreifen. Vor dem Unfall hatte er es genossen, sich Sebastians Willen für einige Stunden in der Nacht auszuliefern, hilflos mit
gebundenen Gliedern vor ihm zu liegen und hinzunehmen, was immer Sebastian für ihn im Sinn hatte. Es war einfach gewesen, so zu tun, als sei seine Lähmung eine Erweiterung eines Spiels
mit Handschellen und Ketten, ausgeweitet auf den größten Teil des Tages und alle Räume des Hauses. Sebastian hatte seine Pflege übernommen, weil Noah an seine Hand gewöhnt
war und weil er ihm die Scham vor jemand Fremdem ersparen wollte.
In der Reha hatte er eine Woche lang auf seinen Händen gesessen und zugesehen, wie Noah sich an einem selbstständigen Transfer vom Boden zurück in den Stuhl abkämpfte,
ermuntert von anderen Patienten mit gleicher Lähmungshöhe, die den Transfer schon beherrschten, und immer wieder angespornt von seiner Physiotherapeutin und ihren Reden darüber, wie
unabdingbar Selbstständigkeit im höchstmöglichen Maß war.
In Sebastians Augen hatte die Therapeutin dabei keine Rücksicht darauf genommen, dass Noahs Frustration mit jedem gescheiterten Versuch gewachsen war, bis er am Ende der Woche auf der
Trainingsmatte zuletzt einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Sebastian hatte sofort interveniert und die Therapeutin in ihre Schranken gewiesen, hatte fast eine Stunde gebraucht, um Noah zu
beruhigen, und ihn dann von der Matte gehoben. Er hatte daraufhin beschlossen, dass Noah das
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