Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)

Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)

Titel: Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad , Jannis Plastargias , C. Dewi , Gerry Stratmann
Vom Netzwerk:
kleine Kunststück nicht beherrschen musste. Er würde nicht zulassen, dass Noah aus seinem
Rollstuhl fiel, und wenn er das Bedürfnis hatte, auf dem Boden zu sitzen, würde Sebastian da sein, um ihn zurück in den Stuhl heben. So einfach war das für ihn.
    Sebastian hatte damals nicht verstanden, dass er ihm die Möglichkeit genommen hatte, sich mit den Fähigkeiten und Unfähigkeiten seines Körpers auseinanderzusetzen, und er
hatte ihm keine Zeit gelassen, seinen Verlust zu betrauern.
    Zwei Wochen nach seiner Entlassung aus der Reha hatten sie das erste Mal miteinander geschlafen. In dieser Nacht hatte keiner von ihnen einen Orgasmus erlebt, noch erwartet – die
Sexualtherapeutin in der Klinik hatte sie auf die möglichen Schwierigkeiten vorbereitet. Noah war zu überfordert gewesen, Erregung von Schmerz zu unterscheiden, Sebastian zu konzentriert
darauf, Noah nicht wehzutun. Dennoch hatte Sebastian sie weiter gedrängt, bis Noah Ängste und Scham überwunden hatte und sie nach weiteren vier Monaten letztendlich zu einem
befriedigenden Ergebnis gekommen waren.
    Damian hatte acht Jahre gebraucht, ehe er jemanden nah genug an sich heranlassen konnte, um Körperlichkeiten wieder genießen zu können. Damals hatte diese Aussage Noah
erschreckt. Heute wusste er, dass zwei Wochen ein ebenso schlechtes Maß waren wie acht Jahre. Damian hatte sie gewarnt, hatte das Risiko eines Rückschlags erkannt, aber sie beide hatten
nicht sehen wollen, wie unwahrscheinlich es war, dass ein Junge im Rollstuhl, hilflos und abhängig, es genoss, hilflos und abhängig zu sein.
    Vor dem Unfall war das Machtgefälle ein Spiel gewesen. Danach hatten sie viel Mühe darauf verwendet sich selbst glauben zu machen, dass es weiterhin eins war. Noah wusste nicht, wann
Sebastian dem Ernst der Lage ins Gesicht gesehen hatte, erkannt hatte, dass sie nicht den einzigen, sondern den einfachsten Weg genommen hatten, aber er erinnerte sich an den Augenblick, an dem ihm
selbst bewusst geworden war, dass er Sebastian nicht mehr wahrhaftig gleichstand.
    7
    »Ich kann nicht glauben, dass du zugelassen hast, dass sie mich direkt neben ihn setzen. Dann hätten sie auf den Sitzplan auch gleich
Idiotentisch
schreiben
können.«
    Noah hatte es Sebastian so leise wie möglich zugeraunt, nachdem der angekündigte Bruder des frisch Vermählten während der Suppe Gefallen daran gefunden hatte, an Noahs
Manschettenknopf zu zupfen.
    »Noah, das ist kein Idiotentisch, sondern der Tisch für den engsten Familienkreis. Es war der einzige Platz im Raum, an dem man vernünftig rangieren kann.«
    Sebastian versuchte, ihn zu beschwichtigen, aber der Hauptgang hatte ihr Gespräch unterbrochen. Es wurde Lammfilet serviert, mit mediterranexotischem Dünstgemüse und
geröstetem Süßkartoffelirgendwas. Die Beilage hatte Noah wenig interessiert, stattdessen hatte er auf das anrüchige Stück Fleisch gestarrt, das höhnisch auf seinem
Teller thronte. Eine nicht zu bewältigende Aufgabe. Wenn es zuhause Steak gab, schnitt Sebastian ihm das Fleisch klein, weil er nicht wollte, dass Noah Besteckhilfen benutzen musste.
    Sebastian warf ihm einen Blick zu.
    »Untersteh dich!«, zischte Noah unter der Stimme und zog das Messer mit dem Handballen parallel zur Tischkante, von wo aus er den Griff zwischen Finger und Handinnenfläche
klemmen konnte. Es lag nicht sonderlich gut in der Hand, der Griff war sehr schmal, das Messer zu leicht. Mit rot anlaufendem Kopf schielte er zu seinem Tischnachbarn rüber und sah, dass
selbst Jeanettes neu gewonnener spätpubertärer Schwager vom geistigen Alter eines Fünfjährigen sein Besteck halten konnte wie ein normaler Mensch.
    Damit hatten die Demütigungen aber kein Ende. Irgendwann gegen Ende des Hauptgangs hatte sich der Vater des Bräutigams zur Rede erhoben. Noah hatte nicht gewusst, dass es real
existierende Menschen gab, die mit ihrer Gabel gegen ein halb gefülltes Glas schlugen, um die Aufmerksamkeit des Saals auf sich zu ziehen. Es hatte eine kleine Weile gedauert, bis
sämtliche Gäste den Blick zu ihm gerichtet hatten und die Gespräche unterbrochen waren, dann aber war erwartungsvolle Stille eingekehrt.
    Natürlich war Noah in genau diesem Moment die Spastik in den Arm geschossen. Das Messer war aus seinem Klemmgriff geglitten, im Fall gegen das Porzellan des Tellers geschlagen und mit
leisem Scheppern unter den Tisch gerutscht. Noah hatte wie erstarrt gesessen, gespürt, wie sich sämtliche Blicke im Saal auf seinen

Weitere Kostenlose Bücher