Kräuterquartett 01 - Das Rascheln von Rosmarin
konnte keinen triftigen Grund finden, auch heute Abend dem Essen fernzubleiben wie in den letzten beiden Tagen. Nein, ich denke, ich nehme den goldenen Bliaut, Verna.“
Ihre Zofe holte pflichtschuldig das goldene Untergewand aus der Kleidertruhe ihrer Herrin. In die Tunika hatte man einzelne Goldfäden eingewirkt, was das enganliegende Gewand aussehen ließ wie den Ozean unter einem sonnigen Himmel. Verna schnürte es an beiden Seiten eng zu und wandte sich dann wieder den Truhen zu.
„Die grüne Tunika, Mylady?“, fragte sie, als sie ein Übergewand hervorzog, das von goldenem Faden umsäumt war.
„Ja.“ Sie würde ihr bestes Gewand anziehen, für diesen Mann, den sie sicherlich verabscheuen würde, der nur darauf wartete, sie überall am Leib zu begrabschen, und sich mit den gleichen Pranken ihre Ländereien nahm. Obwohl sie neugierig war und auch wusste, dass Verna sicherlich den Klatsch über den Mann mitbekommen hatte, den ihr Vater zu ihrem Gemahl auserkoren hatte, ließ Maris sich nicht zu einer Frage über ihn herab.
Sie würde noch früh genug alles über ihn erfahren.
Verna streifte Maris die lange, weite Tunika über den Kopf. Die Tunika war an den Seiten offen, lediglich ein Loch für ihren Kopf war darin und der tiefe Ausschnitt diente dazu, den goldenen Bliaut darunter zur Geltung zu bringen. Ein goldener Gürtel, geformt wie eine locker geflochtene Girlande aus Blüten und Blättern hielt die Tunika an ihrer Taille zusammen.
Eine seltsame Unruhe befiel Maris bei dem Gedanken, heute Abend die Stufen zum Abendessen hinabzuschreiten. Sie wusste, ihr Vater war fest entschlossen und unten erwartete sie der Mann, den sie schon bald heiraten sollte. So sehr sie den Gedanken an das Heiraten auch verabscheute, Maris hatte mittlerweile eingesehen, dass sie zum Wohle von Langumont über kurz oder lang heiraten musste ... dass es ihr nichts nützen würde, ihren Vater zu erzürnen, indem sie dem von ihm erwählten Bräutigam eine Abfuhr erteilte.
Es blieb nicht genug Zeit, um ihr Haar neu zu frisieren, also beließ Verna es bei dem schweren Zopf, der ihr hinten gerade am Rücken runter hing. Ein paar widerspenstige Haarsträhnen von sattem Kastanienbraun hatten sich gelöst und rahmten ihr Gesicht ein. Verna steckte sie unter dem blütenweißen, golddurchwirkten Brusttuch fest, das Kopf und Hals ihrer Herrin bedeckte. Ein schmaler Reif aus getriebenem Gold sorgte dafür, dass das Tuch nicht verrutschte – und Maris war fertig für das abendliche Mahl.
Mit Bedacht schritt sie langsam zur Halle und zu den Treppen hin, die sie hinab zur abendlichen Tischgesellschaft ihres Vaters führten. Widerwillig setzte sie den Fuß auf die Treppe und genoss noch kurz, von hier aus die gesamte Halle zu überblicken.
Vertraute Geräusche der Vorbereitungen für das Essen drangen nach oben bis zu ihr hin. Leibeigene eilten geschäftig hin und her, Soldaten stellten die einfachen Holztische in langen Reihen auf und platzierten Bänke rechts und links davon. Weibliche Leibeigene standen abseits schon bereit mit Holztellern und einfach geschnitzten Bechern, um diese auf die Tische zu stellen. Die drei Hunde, die sich in der Halle aufhalten durften, schliefen neben dem Feuer und wussten schon, dass die Essensreste für sie noch etwas auf sich warten lassen würden. Maris erlaubte diesen drei Tieren hier zu sein, weil sie die drei Lieblingsjagdhunde ihres Vaters waren – oder gewesen waren, bevor einer von ihnen blind wurde, der andere ein Bein verlor und der Dritte in ein Alter kam, wo das Laufen nicht mehr möglich war.
Eine Gruppe von Männern saß am hell lodernden Feuer. Ein paar von ihnen waren vertieft ins Schachspiel oder in andere Glücksspiele und andere tranken Ale und erzählten einander Witze. Wiederum andere schäkerten mit den weiblichen Leibeigenen, ohne Zweifel in der Hoffnung eine zu finden, um das Lager mit ihr zu teilen.
Maris’ Schritte brachten sie dem unteren Ende der Treppe immer näher – zu der Ecke direkt gegenüber von dem Tisch ihres Vaters. Sie bahnte sich vorsichtig ihren Weg zwischen den Tischen, den Leibeigenen und den Soldaten hindurch, auf das leicht erhöhte Podium zu. Sobald die Sicht auf das Podium frei war, sah sie, dass ihr Vater in eine Unterhaltung mit einem Mann vertieft war, der zweifellos ihr ungebetener Bräutigam war.
Ihr Magen sackte aus Enttäuschung etwas ab. Das hier musste der Mann sein, den ihr Vater erwartete. Ihr Verlobter.
Weitere Kostenlose Bücher