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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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jeden Abend, und Natalie - einsam und noch vom inneren Schmerz des Verlustes erfüllt - sagte jedesmal: »Noch ein paar Tage, Frederick. Noch ein paar Tage.«
    Ein paar Tage für was? dachte sie. Die Fenster der großen alten Häuser der South Battery waren hell erleuchtet und strahlten Veranden, Balkone, Kuppeln und Balustraden an. Diesen Teil der Stadt hatte sie von jeher gemocht. Als sie noch ein kleines Mädchen war, war sie oft mit ihrem Vater hierher gekommen, wenn sie an der Battery spazierengingen. Erst mit zwölf war ihr aufgefallen, daß keine schwarzen Menschen hier lebten - daß die schönen alten Häuser und Geschäfte ausschließlich Weißen gehörten. Jahre später staunte sie noch, daß diese Erkenntnis einem farbigen Mädchen, das in den sechziger Jahren im Süden aufwuchs, erst so spät kam. So vieles war vollkommen normal, so vielem mußte man tagtäglich widerstehen, sie konnte nicht glauben, daß ihr nie aufgefallen war, wie die Straßen ihrer Abendspaziergänge - die großen alten Häuser ihrer Kindheitsträume - für sie und ihresgleichen ebenso verboten waren wie viele Schwimmbäder, Kinos und Kirchen, die sie nicht im Traum betreten haben würde. Als Natalie alt genug war, daß sie allein durch die Straßen von Charleston ziehen konnte, waren die offenkundigen Schilder entfernt worden, die öffentlichen Trinkbrunnen waren wirklich öffentlich, aber die alten Gewohnheiten hielten sich, durch zwei Jahrhunderte geschaffene Barrieren blieben bestehen, und Natalie fand es unglaublich, daß sie sich noch an den Tag erinnern konnte - einen feuchten, kalten Novembertag des Jahres 1972 -, als sie nicht weit von dieser Stelle an der South Battery entfernt betroffen gestanden, die großen Villen betrachtet und gemerkt hatte, daß niemand aus ihrer Familie jemals hier gelebt hatte, jemals hier leben würde. Aber der zweite Gedanke war so schnell verdrängt worden, wie er gekommen war. Natalie hatte die Augen ihrer Mutter und den Stolz ihres Vaters geerbt. Joseph Preston war der erste schwarze Geschäftsmann gewesen, der einen Laden in der angesehenen Gegend der Bucht besaß und führte. Sie war Joseph Prestons Tochter.
    Natalie fuhr die Dock Street entlang und kam am renovierten Dock Street Theatre vorbei, dessen schmiedeeiserne Gitter sich am Balkon im ersten Stock festklammerten wie wildwuchernder Efeu aus Metall.
    Zehn Tage war sie jetzt zu Hause, und alles, was vorher passiert war, kam ihr wie ein anderes Leben vor. Gentry würde jetzt Dienstschluß haben und seinen Deputies und Sekretärinnen und den anderen Weißen im City-County Building guten Abend und fröhliche Weihnachten wünschen. Wahrscheinlich versuchte er gerade, sie anzurufen.
    Sie parkte das Auto in der Nähe der Episkopalkirche St. Michael und dachte über Gentry nach. Über Robert Joseph Gentry.
    Nachdem sie sich vergangenen Freitag am Flughafen von Laski verabschiedet hatten, hatten sie den größten Teil des Tages zusammen verbracht. Und des nächsten. Die Unterhaltung am ersten Tag hatte sich weitgehend um Laskis Geschichte gedreht - über die Vorstellung an sich, daß es Menschen gab, die andere geistig benützen konnten. »Wenn der Professor verrückt ist, schadet es wahrscheinlich keinem«, hatte Gentry gesagt. »Wenn er nicht verrückt ist, erklärt es, warum viele Menschen zu Schaden gekommen sind.«
    Natalie erzählte dem Sheriff, daß sie aus ihrem Zimmer gespäht hatte, als der erschöpfte New Yorker Psychiater vom Bad zur Bettcouch im Wohnzimmer zurückgekehrt war. Er war barfuß gewesen und hatte nur Hosen und ein, wie sie sich ausdrückte, >Altmännerunterhemd< angehabt. Sie hatte sich seinen rechten Fuß angesehen. Der kleine Zeh fehlte, man konnte altes Narbengewebe wie weiße Venen auf blasser Haut erkennen.
    »Das beweist nichts«, hatte Gentry sie erinnert.
    Arn Sonntag hatten sie sich über andere Themen unterhalten. Gentry hatte bei sich zu Hause ein Abendessen für sie gemacht. Natalie hatte sein Haus gefallen - ein alterndes viktorianisches Gebäude etwa zehn Minuten von der Altstadt entfernt. Das Viertel befand sich im Umbruch: einige Häuser verfielen langsam, andere wurden zu alter Schönheit renoviert. Gentrys Block wurde überwiegend von jüngeren Paaren bewohnt - schwarz und weiß -, mit Dreirädern auf den Gehwegen, Springseilen in den Vorgärten und Gelächter, das von den Gärten und Hinterhöfen herausschallte.
    Drei Zimmer im Erdgeschoß waren vollgestopft mit Büchern: wunderschöne eingebaute Regale

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