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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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noch kälter -, »dann werden wir uns etwas ausdenken, das klappt.«

13. Kapitel
     
    Charleston: Mittwoch, 24. Dezember 1980
     
    Es war der einsamste Heiligabend, den Natalie Preston je erlebt hatte, daher beschloß sie, etwas dagegen zu unternehmen. Sie nahm ihre Handtasche und die Nikon mit der 135-mm- Porträtlinse, verließ das Haus und fuhr langsam durch die Altstadt von Charleston. Es war noch nicht einmal sechzehn Uhr, und doch wurde es bereits allmählich dunkel.
    Während sie an den alten Häusern und schicken Geschäften vorbeifuhr, hörte sie im Radio Weihnachtslieder und ließ ihren Gedanken freien Lauf.
    Sie vermißte ihren Vater. Obwohl sie ihn in den vergangenen Jahren immer seltener gesehen hatte, bekam sie angesichts der Vorstellung, daß er nicht da war - nicht irgendwo war - nicht an sie dachte, nicht auf sie wartete -, das Gefühl, als würde etwas in ihrem Innern zusammenbrechen, sich nach innen falten und an der Beschaffenheit ihres Wesens selbst zehren. Sie wollte weinen.
    Sie hatte nicht geweint, als sie die Neuigkeit am Telefon gehört hatte. Hatte nicht geweint, als Fred sie zum Flughafen von St. Louis gefahren hatte - er bestand darauf, sie zu begleiten, sie bestand darauf, daß nicht, er ließ sich von ihr überreden. Sie hatte während der Beerdigung und den nachfolgenden chaotischen Tagen mit Freunden und Verwandten nicht geweint. Erst fünf Tage nach der Ermordung ihres Vaters, vier Tage nach ihrer Rückkehr nach Charleston, als sie eines Nachts nach einem Buch suchte, weil sie nicht schlafen konnte - und ein neues Dell-Taschenbuch mit humoristischen Skizzen von Jean Shepherd fand - das Buch war aufgeklappt, und da, am Rand, stand in der verschnörkelten Handschrift ihres Vaters - An Weihnachten Nat zu lesen geben. Sie hatte die Seite gelesen, die den hysterisch komischen und furchteinflößenden Besuch eines kleinen Jungen beim Weihnachtsmann in einem Warenhaus beschrieb - was so sehr an damals erinnerte, als Natalies eigene Eltern sie mit vier Jahren in die Innenstadt gefahren und eine Stunde Schlange gestanden hatten, nur damit ihre Tochter im entscheidenden Augenblick von Panik ergriffen floh -, und als sie zu Ende gelesen hatte, hatte Natalie gelacht, bis ihr Lachen in Tränen übergegangen war, und die Tränen in Schluchzen; sie hatte fast die ganze Nacht geweint und war erst eine Stunde vor der Dämmerung eingeschlafen, aber als sie mit dem Wintersonnenaufgang aufgestanden war und sich leer und ausgelaugt gefühlt hatte, ging es ihr dennoch besser, wie einem Opfer von Übelkeit nach dem ersten Krampf des Erbrechens. Das Schlimmste hatte sie hinter sich.
    Natalie bog links ab und fuhr an den Stuckvillen in der Rainbow Row vorbei, farbenfrohe Fassaden, die gedämpft wirkten, als die Gaslaternen angingen, und dachte nach.
    Es war ein Fehler gewesen, in Charleston zu bleiben. Mrs. Culver kam fast stündlich von nebenan herüber, aber für Natalie waren die Unterhaltungen mit der ältlichen Witwe gequält und schmerzlich. Sie vermutete allmählich, daß Mrs. Culver sich Hoffnungen gemacht hatte, die zweite Mrs. Preston zu werden, und bei dem Gedanken wollte Natalie ins Schlafzimmer und sich verkriechen, wenn sie das vertraute, zaghafte Klopfen an der Tür hörte.
    Frederick rief jeden Abend aus St. Louis an, Punkt acht, und Natalie konnte sich den strengen Ausdruck im dunklen Gesicht ihres Freundes und einstigen Liebhabers vorstellen, wenn er sagte: »Babe, komm zurück. Es nützt nichts, wenn du im Haus deines Vaters herumhängst. Du fehlst mir, Babe. Komm heim zu Frederick.« Aber ihr kleines Apartment in University City kam ihr nicht mehr wie ein Zuhause vor - und Fredericks vollgestopftes kleines Zimmer in der Alamo Street war kaum mehr als ein Schlafplatz für ihn zwischen vierzehnstündigen Marathons im Computerzentrum, wo er sich mit der Mathematik der Masseverteilung in galaktischen Clustern herumschlug. Frederick, der kluge, aber ungebildete Junge, von dem sie von gemeinsamen Freunden gehört hatte, der nach zwei Einsätzen in Vietnam mit einem mörderischen Temperament, einer neu entfachten Leidenschaft für die Verteidigung der Menschenwürde und einem revolutionären Geist zurückgekehrt war, der so kanalisiert wurde, daß er ihn zu dem außergewöhnlichen Mathematiker machte, den Natalie kennen- und - zumindest den größten Teil des vergangenen Jahres - liebengelernt hatte. Sie hatte geglaubt, sie würde ihn lieben. »Komm zurück nach Hause, Babe«, sagte die Stimme

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