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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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im Arbeitszimmer/Bibliothek neben der Diele, handgemachte Regale auf beiden Seiten der Erkerfenster im Eßzimmer, billige Metallregale an einer schwarzen Backsteinwand der Küche. Während Gentry Grünzeug und Gemüse für den Salat zurechtschnitt, war Natalie mit dem Segen des Sheriffs von Zimmer zu Zimmer gewandert, bewunderte die alten, ledergebundenen Folianten, die Regale mit gebundenen Büchern über Geschichte, Soziologie, Psychologie und ein Dutzend andere Themen, und lächelte vor den unzähligen Reihen mit Spionageromanen, Krimis und Thrillern. In Gentrys Arbeitszimmer hätte sie sich am liebsten auf der Stelle mit einem Buch hingelegt. Sie verglich den riesigen Schreibtisch voller Papiere und Dokumente, die lederüberzogene Polstergarnitur, Sessel und Sofa, und die Wände mit den eingebauten, üb er quell enden Bücherregalen mit ihrem eigenen spartanischen Arbeitszimmer in St. Louis. Sheriff Bobby Joe Gentrys Arbeitszimmer besaß dasselbe wohnliche Flair eines Lebensmittelpunktes, das ihr die Dunkelkammer ihres Vaters stets vermittelt hatte.
    Als der Salat angemacht war und die Lasagne brutzelte, saßen sie und Gentry im Arbeitszimmer, genossen einen unver- schnittenen Premium Scotch-Whiskey und unterhielten sich weiter wobei das Gespräch wieder auf Saul Laskis Glaubwürdigkeit und ihre eigenen Reaktionen auf seine Geschichte kam.
    »Die ganze Sache riecht geradezu klassisch nach Paranoia«, hatte Gentry gesagt, »aber wenn ein europäischer Jude die Einzelheiten des Holocaust zehn Jahre bevor er tatsächlich stattfand, vorhergesagt hätte, dann hätte ihm jeder Psychiater - sogar ein jüdischer - bescheinigt, daß er wahrscheinlich an paranoider Schizophrenie leidet.«
    Sie hatten zugesehen, wie das letzte Licht vor dem Erkerfenster verschwand, während sie gemütlich ihr Abendessen verspeisten. Gentry hatte in einem gut mit Weinflaschen bestückten Keller gekramt und war fast vor Verlegenheit errötet über ihr Erstaunen, daß er einen Weinkeller besaß, bevor er mit zwei Flaschen exzellentem BV Cabernet Sauvignon zum Essen heraufkam. Sie fand das Essen ausgezeichnet und hatte ihn beglückwünscht, weil er ein Gourmet-Koch war. Er hatte mit der Bemerkung gekontert, daß man Frauen, die kochen konnten, als gute Köchinnen bezeichnete, aber alte Junggesellen, die in der Küche zurechtkamen, als Gourmet-Köche. Sie hatte gelacht und versprochen, dieses spezielle Klischee von ihrer Liste zu streichen.
    Klischees. Natalie, die am Heiligabend allein im zunehmend auskühlenden Auto in der Nähe der Episkopalkirche St. Michael saß, dachte über Klischees nach.
    Saul Laski war Natalie wie ein Musterbeispiel für ein Klischee vorgekommen: ein polnischer Jude in New York mit Vollbart und traurigen semitischen Augen, die sie aus einer europäischen Dunkelheit heraus anzusehen schienen, die sich Natalie nicht einmal vorstellen, geschweige denn begreifen konnte. Ein Professor - ein Psychiater - mit einem schwachen ausländischen Akzent, bei dem es sich für Natalies ungeübte Ohren durchaus um Freuds Wiener Dialekt hätte handeln können. Der Mann trug eine Brille, die mit Klebeband zusammengehalten wurde, um Gottes willen, wie Natalies Tante Ellen, die senil gewesen war - Alzheimersche Krankheit sagten sie heute dazu -, und das ganze elf Jahre, fast Natalies ganzes Leben, bis sie schließlich gestorben war.
    Saul Laski sah anders aus, klang anders, handelte anders, roch anders als die meisten Menschen - schwarz oder weiß -, die Natalie je kennengelernt hatte. Natalies Klischeebild von Juden war skizzenhaft - dunkle Kleidung, seltsame Bräuche, ein ethnisches Aussehen, ein Hang zu Geld und Macht auf Kosten der Nähe ihres, Natalies eigenen Volkes zu Geld und Macht -, aber es sollte ihr keine Mühe bereiten, Saul Laskis Andersartigkeit nach diesen Stereotypen zu bewerten.
    Und doch war es so. Natalie gab sich nicht dem Irrglauben hin, sie wäre zu intelligent, andere Menschen auf Stereotypen zu reduzieren; sie war erst einundzwanzig Jahre alt, aber sie hatte schon gesehen, wie intelligente Menschen wie ihr Vater und Frederick - intelligente Menschen - einfach die Stereotypen veränderten, mit denen sie ihre Mitmenschen bedachten. Ihr Vater - so feinfühlig und großzügig er gewesen war, so radikal stolz auf Rasse und Herkunft - hatte den Aufstieg des sogenannten Neuen Südens als gefährliches Experiment betrachtet, als eine Manipulation durch Radikale beider Hautfarben, ein System zu verändern, das sich an sich

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