Kraft des Bösen
sie blaue Lippen von gelben Zähnen fletschte, wie ihre blauen Augen auf einer lappenden Woge Maden in die leeren Höhlen gehoben wurden und wieder Blut aus dem zehncentgroßen Loch in ihrer blassen Stirn floß. Aber das ist keine wahre Erinnerung. Ich glaube jedenfalls nicht.
Wenn ich versuche, mich an die Stunden und Tage unmittelbar nach dem letzten >Wiedersehen< in Charleston zu erinnern, denke ich zuerst an ein Gefühl von Beschwingtheit, Übermut, wiederhergestellter Jugend. Damals dachte ich, das Schlimmste wäre überstanden.
Wie närrisch ich war.
Ich war frei!
Frei von Willi und Nina, frei von dem >Spiel< und den damit zusammenhängenden Alpträumen.
Ich ließ Lärm und Chaos des Mansard House hinter mir und ging langsam durch die stille Nacht. Trotz aller Schmerzen und Qualen des Tages fühlte ich mich so jung wie seit vielen, vielen Jahren nicht mehr. Frei! Ich schritt beschwingt dahin und erfreute mich an der Dunkelheit und der kühlen Nachtluft. Irgendwo jammerten Sirenen ihren Klageruf, aber ich schenkte ihnen keine Beachtung. Ich war frei!
Am Fußgängerüberweg einer dichtbefahrenen Kreuzung blieb ich stehen. Die Ampel wurde rot und ein langes, blaues Auto - ein Chrysler, glaube ich - hielt an. Ich trat vom Bordstein und klopfte an das Fenster der Beifahrerseite. Der Fahrer, ein untersetzter Mann mittleren Alters mit einem fransigen Haarkranz, beugte sich herüber und sah mich argwöhnisch an. Dann lächelte er und drückte einen Knopf, mit dem er das Fenster herunterließ. »Ja, Ma’am, stimmt etwas nicht?«
Ich nickte und stieg ein. Die Polster bestanden aus einem Samtimitat und waren sehr weich. »Fahren Sie«, sagte ich.
Wenig später befanden wir uns auf der Interstate und verließen die Stadt. Ich sprach nur, um ihm Anweisungen zu geben. Obwohl ich erschöpft war, bedurfte es fast keiner Anstrengung, die Kontrolle aufrechtzuerhalten. Mit meinem überschwenglichen Gefühl wiedererlangter Jugend kam eine Sicherheit im Umgang mit der >Gabe<, wie ich sie seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hatte. Ich lehnte mich in den Sitz zurück und verfolgte, wie die Lichter von Charleston vorüberzogen und zurückblieben. Wir waren schon Meilen von der Stadt entfernt, als mir auffiel, daß der Fahrer eine Zigarre rauchte. Ich verabscheue Zigarren. Er ließ das Fenster hinunter und warf sie hinaus. Ich ließ ihn die Heizung ein wenig regulieren, danach fuhren wir schweigend weiter Richtung Nordwesten.
Irgendwann kurz vor Mitternacht passierten wir das dunkle Sumpfstück, wo Willis Flugzeug abgestürzt war. Ich machte die Augen zu und rief mir die frühen Jahre in Wien ins Gedächtnis zurück: die fröhlichen, mit Ketten gelber Glühbirnen geschmückten Biergärten, die mitternächtlichen Spaziergänge an der Donau, die Erregung, die wir in unserer gegenseitigen
Gesellschaft verspürten, der Kitzel unserer ersten bewußten >Speisungen<. In diesen ersten Sommern hatten wir Willi in verschiedenen Hauptstädten und Kurorten getroffen, und ich hatte geglaubt, ich könnte mich in ihn verlieben. Lediglich mein Gedenken an meinen teuren Charles hatte mich davon abgehalten, Gefühle für unseren burschikosen Gefährten der Nacht zu entwickeln. Ich schlug die Augen auf und betrachtete den dunklen Wall von Bäumen und Dickicht rechts der Straße. Ich dachte an Willis verstümmelten Leichnam, der irgendwo da draußen zwischen Schlamm, Insekten und Reptilien lag. Ich empfand nichts.
In Columbia hielten wir zum Tanken an und fuhren weiter. Nachdem der Fahrer bezahlt hatte, nahm ich seine Brieftasche und durchsuchte sie. Er hatte nur dreißig Dollar bei sich, zusammen mit dem üblichen Durcheinander von Karten und Fotos. Sein Name war unwichtig, daher sah ich mir wohl den Führerschein an, machte mir aber nicht die Mühe, mir ihn zu merken.
Autofahren ist beinahe eine Reflexhandlung. Ich mußte mich kaum konzentrieren, ihn bei der Aufgabe zu halten. Ich döste sogar ein bißchen, als wir auf der I-20 an Augusta vorbei Richtung Georgia fuhren. Als ich erwachte, regte er sich, murmelte und schüttelte verwirrt den Kopf, aber ich festigte meinen Griff, und er sah wieder auf die Straße. Ich sah gefilterte Bilder von Scheinwerfern und Spiegeln vor mir, als ich die Augen wieder zumachte.
Wir trafen kurz nach drei Uhr morgens in Atlanta ein. Ich habe Atlanta noch nie gemocht. Der Stadt fehlt jeglicher Charme und die Anmut, die die Tidewater-Kultur auszeichnet, und sie breitete sich mittlerweile nach allen Seiten aus,
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