Kraft des Bösen
vorbeigefahren waren.
Also fahr zum City-County Building oder zu Gentrys Haus. Das ist nur zehn Minuten entfernt. Wer im Haus ist, wird in zehn Minuten fort sein. Gut.
Natalie wußte nur eines bestimmt: sie würde das Haus nicht betreten. Das war schon beim ersten Mal eine Dummheit gewesen, aber da hatten Wut und Trauer und eine aus Unwissenheit geborene Tollkühnheit sie getrieben. Heute nacht wieder hineinzugehen wäre sträflich dumm. Mit oder ohne Waffe.
Als kleines Mädchen war Natalie freitags und samstags nachts gerne länger aufgeblieben und hatte sich den Gruselfilm angesehen. Ihr Vater ließ sie die Bettcouch ausziehen, damit sie gleich, wenn der Film zu Ende war, schlafen konnte - oder häufiger, während die Bilder noch flackerten. Manchmal leistete er ihr Gesellschaft - er in seinem blau-weiß gestreiften Pyjama, sie in ihrem Flanellnachthemd -, dann lagen sie beide zurückgelehnt, aßen Popcorn und ließen sich über die unvorstellbaren Mengen Blut und Glibber und die Action aus. In einem aber waren sie sich von Herzen einig: niemals Mitleid mit der Heldin, die sich dumm verhielt. Die junge Frau im Spitzennachthemd wurde immer wieder ermahnt:
ÖFFNE NICHT DIE VERSCHLOSSENE TÜR AM ENDE DES DUNKLEN FLURS.
Und was machte sie, sobald alle fortgegangen waren? Sobald ihre Freitagabendheldin die verschlossene Tür aufschloß, hielten Natalie und ihr Vater nach dem Ungeheuer Ausschau, das sich dahinter verbergen mochte.
Natalie machte die Autotür auf und trat auf die Straße hinaus. Die Automatik lag seltsam schwer in ihrer rechten Hand. Sie stand einen Moment reglos da und betrachtete die beiden dunklen Häuser mit dem gemeinsamen Hof. Eine dreißig Meter entfernte Straßenlaterne beleuchtete Backstein und Baumschatten. Nur bis zum Tor, dachte Natalie, Wenn jemand herauskam, konnte sie weglaufen. Das Tor würde sowieso abgeschlossen sein.
Sie überquerte die ruhige Straße und ging zum Tor. Es war aufgeschlossen und stand einen Spalt offen. Sie berührte das kalte Metall mit der linken Hand und betrachtete die dunklen Fenster des Hauses. Durch den Adrenalinstoß schlug ihr das Herz gegen die Rippen, aber sie fühlte sich auch stark, beschwingt, schnell. Die Pistole in ihrer Hand war echt. Sie rastete die letzte Sicherung aus, wie Gentry es ihr gezeigt hatte. Sie würde nur schießen, wenn sie angegriffen wurde - in jedweder Form angegriffen -, aber schießen würde sie.
Sie wußte, es wurde Zeit, zum Auto zurückzugehen, wegzufahren, Gentry anzurufen. Sie stieß das Tor auf und betrat den Hof.
Der große alte Springbrunnen warf einen dunklen Schatten, der ihr eine lange Minute Deckung bot. Natalie stand da und beobachtete Fenster und Eingangstür der Villa Fuller. Sie fühlte sich wie eine Zehnjährige, die aufgefordert worden war, die Eingangstür des hiesigen Spukhauses anzufassen. Es hatte Licht gebrannt.
Wenn jemand dagewesen war, hätten sie hinten hinausgehen können, so wie sie und Saul gekommen und gegangen waren. Sie würden nicht zur Eingangstür herauskommen, wo man sie vom Gehweg mühelos sehen konnte. Wie auch immer, sie war weit genug gegangen. Es wurde Zeit, zum gottverdammten Auto zurückzukehren und wie der Teufel von hier wegzufahren.
Natalie ging langsam zu der kleinen Veranda und hob die Pistole ein wenig. Dort konnte sie erkennen, was die Schatten des kleinen Verandadachs teilweise verborgen hatten: die Eingangstür stand ein wenig offen. Natalie atmete schwer, keuchte fast, aber bekam trotzdem nicht genügend Luft in die Lungen. Sie holte dreimal tief Luft und hielt beim drittenmal den Atem an. Atmung und Puls normalisierten sich. Sie streckte die Automatik aus und gab der Tür einen leichten Schubs. Diese schwang geräuschlos wie in Scharnieren ohne Reibungswiderstand nach innen und gab den Blick auf die Holztäfelung der Diele und die untersten Stufen der Treppe frei. Natalie bildete sich ein, sie könne die Flecken sehen, wo Kathleen Hodges und diese Kramer gestorben waren. Wenn jetzt jemand die Treppe herunterkäme, würde er als zwei Füße sichtbar werden, dann dunkle Beine .
Scheiß drauf, dachte Natalie, drehte sich um und lief. Das Gewicht der Pistole brachte sie aus dem Gleichgewicht, und sie wäre beinahe gestolpert, bevor sie das Tor erreichte. Sie erlangte das Gleichgewicht wieder, warf einen ängstlichen Blick über die Schulter zur offenen Tür, dem dunklen Brunnen, Schatten auf Backstein, Glas und Stein, und dann hatte sie das Tor hinter sich gelassen, die
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