Kraft des Bösen
bemerkte es nicht. Sie beugte sich noch weiter über das Dia.
»Und das ist das Ungeheuer, das sie wahrscheinlich getötet hat«, sagte sie. »Diese harmlose, kleine alte Dame. So harmlos wie eine große schwarze Witwe, die alles tötet, das ihr ins Gehege kommt. Und wenn sie herauskommt, dann müssen andere Menschen sterben. Wie mein Vater.« Natalie schaltete den Leuchttisch aus, gab Gentry das Dia und sagte: »Hier, ich gehe die restlichen Dias morgen durch, ob noch eins dabei ist. Bis dahin können Sie das hier vergrößern und mit Ihren Haftbefehlen oder Aktennotizen oder Rundschreiben, oder wie immer Sie das nennen, hinausschicken.«
Gentry hatte genickt und das Dia mit spitzen Fingern auf Armeslänge von sich gehalten, als wäre es eine Spinne, noch am Leben und noch sehr, sehr tödlich.
Natalie parkte das Auto gegenüber von Melanie Fullers Haus, betrachtete das alte Gebäude als Teil ihres Rituals, legte den Gang ein, damit sie weiterfahren konnte, um Gentry irgendwo wegen eines Abendessens anzurufen, und erstarrte plötzlich. Sie schaltete wieder in den Leerlauf und machte den Motor aus. Mit zitternden Fingern hob sie die Nikon, sah durch den Bildsucher und legte das 135-mm-Objektiv auf das teilweise heruntergekurbelte Fenster, um es zu stützen.
Im Fuller-Haus brannte Licht. Im ersten Stock. Nicht in einem der Zimmer zur Straße, aber doch nahe genug, daß das Licht in den Flur des ersten Stocks drang und von dort durch die Rollos. Natalie war an den vergangenen drei Abenden jedesmal nach Einbruch der Dunkelheit vorbeigefahren. Nie hatte ein Licht gebrannt.
Sie ließ die Kamera sinken und holte tief Luft. Ihr Herz schlug mit lächerlicher Geschwindigkeit. Es mußte eine vernünftige Erklärung geben. Die alte Frau konnte nicht einfach nach Hause zurückgekehrt sein und ihr altes Heim wieder bezogen haben, wo die Polizei in einem Dutzend Bundesstaaten und das FBI nach ihr suchten.
Warum nicht?
Nein, dachte Natalie, es gibt eine andere Erklärung. Vielleicht hielt sich Gentry oder ein anderer Ermittler dort auf. Es konnten die städtischen Beamten sein; Gentry hatte ihr gesagt, daß sie in Erwägung zogen, die Sachen der alten Dame einzulagern, bis die Anhörungen und Ermittlungen abgeschlossen waren. Es konnte Hunderte vernünftiger Erklärungen geben.
Das Licht ging aus.
Natalie zuckte zusammen, als hätte sie jemand im Nacken berührt. Sie tastete nach der Kamera und hob sie hoch. Das Fenster im ersten Stock befand sich im Bildsucher. Das Licht hinter den hellen Rollos war verschwunden.
Natalie legte die Kamera behutsam auf den Beifahrersitz, lehnte sich zurück, atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen, zog die Handtasche von der Mittelablage und legte sie sich auf den Schoß. Ohne die dunkle Fassade des Hauses aus den Augen zu lassen, kramte sie in der Handtasche, zog die 32er Llama Automatik heraus und legte die Handtasche wieder hin. So saß sie da und ließ den Lauf der kleinen Waffe auf der unteren Rundung des Lenkrads aufliegen. Mit dem Daumen fühlte sie nach dem Sicherungshebel und schob ihn hoch. Es gab noch eine zweite Sicherung, aber die zu lösen würde keine Sekunde dauern. Am Dienstagabend hatte Gentry sie zu einem privaten Schießstand gebracht und ihr gezeigt, wie man die Waffe lud, handhabte und schoß. Jetzt war sie geladen, sieben Patronen, die wie Eier aus Metall im Blechnest des Magazins staken. Die Ladeanzeige war rot, blutrot.
Natalies Gedanken rasten wie Labormäuse, die den Ausgang aus dem Labyrinth suchen. Was sollte sie nur tun? Warum sollte sie etwas tun? Es waren vorher schon Eindringlinge dortgewesen . Saul war ein Eindringling . Verdammt, wo steckte Saul? Konnte er es wieder sein? Natalie verwarf diesen Gedanken als absurd, noch ehe sie ihn zu Ende gedacht hatte. Wer dann? Natalie sah Melanie Fuller und ihren Mr. Thorne auf dem Dia vor sich. Nein, Thorne ist tot. Melanie Fuller konnte ebenfalls tot sein. Wer dann?
Natalie umklammerte den Griff der Waffe, hielt den Finger sorgfältig vom Abzug fern und beobachtete das dunkle Haus. Ihr Atem ging rasch, aber beherrscht.
Geh fort. Ruf Gentry.
Wo? In seinem Büro oder daheim? Überall. Sprich mit dem Deputy, wenn es sein muß. Sieben Uhr am Heiligabend. Wie schnell würden das Büro des Sheriffs oder die städtische Polizei reagieren? Und wo befand sich das nächste Telefon? Natalie versuchte sich an eines zu erinnern, aber ihr fielen nur die dunklen Geschäfte und Restaurants ein, an denen sie
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