Kraft des Bösen
gleich hinter der Nachbargarage dort gefunden«, sagte Anne und deutete durch die eisverkrusteten Scheiben. »Aber die Gesellschaft hat kein Geld mehr, die Ausgrabungen fortzusetzen, bis Anfang Februar Mittel der Historischen Kommission von Philadelphia bewilligt werden.«
»Vincent würde sich den Tunnel gerne ansehen«, sagte ich.
»Oh«, sagte Anne, schien zu zaudern und strich sich mit einer Hand über die Stirn, »ich weiß nicht, ob das richtig wäre .«
»Vincent will ihn sehen«, sagte ich.
»Gewiß«, stimmte Anne zu.
Im Salon stand eine Kerze, aber ich mußte den Jungen zu Annes Haus zurückschicken, um Streichhölzer zu holen. Als er die Plastikplane zurückschlug und die kurze Leiter in den Tunnel hinabstieg, machte ich die Augen zu, damit ich besser sehen konnte.
Erde, Gestein, der Geruch von Feuchtigkeit und Gräbern. Der Tunnel war kaum vier Meter unter dem Garten gegraben worden. Neue Holzbalken stützten die Decke des teilweise freigelegten Abschnitts. Ich holte Vincent zurück und schlug die Augen auf.
»Möchten Sie gerne das Obergeschoß sehen?« fragte Anne.
Ich bestätigte es, ohne zu sprechen oder eine Geste zu machen.
Das Kinderzimmer flüsterte mir zu, sobald ich es betreten hatte.
»Die Überlieferung behauptet, daß es in diesem Zimmer spukt«, sagte Anne. »Mrs. Waverlys Hunde haben Angst, es zu betreten.«
Ich ging davon aus, daß Anne das Flüstern auch hören konnte, aber als ich ihre Gedanken berührte, merkte ich nichts davon, nur einen wachsenden Eifer, mich zufriedenzustellen.
Ich ging weiter in das Zimmer hinein. Vom Fenster zur Straße fiel fast kein Licht durch die geschlossenen Läden. In der Dunkelheit konnte ich eine Wiege aus Metall erkennen, die häßlich war und nicht in die Zeit paßte - ein dreckiger Käfig für ein böses Kind. Darüber hinaus sah ich zwei kleine Betten und einen Kinderstuhl, aber es waren die Spielsachen, Marionetten und lebensgroßen Puppen, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen. In einer Ecke stand ein großes Puppenhaus. Auch dieses Ding stammte aus der falschen zeitlichen Periode - es mußte mindestens hundert Jahre nach dem richtigen Haus gebaut worden sein -, aber das Bemerkenswerte daran war, es war verrottet und teilweise zusammengefallen wie ein wirkliches leerstehendes Haus. Ich rechnete halb damit, winzige Ratten durch die Miniaturflure wuseln zu sehen. In der Nähe des Puppenhauses lagen ein halbes Dutzend Puppen auf einem niedrigen Kinderbett. Nur eine davon sah so alt aus, als könnte sie aus dem achtzehnten Jahrhundert stammen, aber einige wirkten so lebensecht wie die schimmelnden Leichen echter Kinder.
Aber die Schaufensterpuppe beherrschte alles. Diese hatte die Größe eines sieben- bis achtjährigen Jungen. Bei der Kleidung handelte es sich um die Nachbildung eines Knabenkostüms aus der Bürgerkriegszeit, aber der Stoff war im Laufe der Jahre verblaßt, Säume waren aufgegangen und der Gestank verrotteter Wolle durchdrang das Zimmer. Hände und Hals und Gesicht hatten an vielen Stellen ihre rosa Oberfläche verloren, darunter konnte man dunkles Porzellan erkennen. Echtes Menschenhaar hatte einmal eine dichte Perücke gebildet, aber jetzt waren nur noch schorfige Flecken vorhanden und die Kopfhaut von Rissen überzogen. Die Augen wirkten unglaublich echt, und mir fiel auf, daß es sich um Glasaugen für Menschen handelte. Einzig und allein die Glasaugen hatten ihre glänzende und leuchtende Oberfläche behalten, während der Rest der Puppe verfallen war: eifrige Knabenaugen im aufgerichteten Leichnam eines Jungen.
Ich nahm aus unerfindlichen Gründen an, das Flüstern würde von der Schaufensterpuppe ausgehen, aber als ich mich ihr näherte, wurde das vage Tuscheln leiser statt lauter. Die Wände waren es, die sprachen. Unter den gleichgültigen Blicken von Anne und Vincent lehnte ich mich an den Verputz und lauschte. Das Flüstern war hörbar, aber gerade unter dem Level, wo man einzelne Worte verstehen konnte. Es hörte sich nach mehr als einer Stimme an, aber ich hatte den deutlichen Eindruck, als würde ich Sätze hören, die an mich gerichtet waren, statt ein Gespräch zu belauschen.
»Hören Sie etwas?« fragte ich Anne.
Sie runzelte die Stirn und versuchte sich die Antwort zurechtzulegen, die mir die größte Freude machen würde. »Nur der Verkehr«, sagte sie schließlich. »Und ein paar Jungs, die auf der Straße schreien.«
Ich schüttelte den Kopf und hielt das Ohr wieder an die Wand. Das Flüstern ging
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