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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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weiter, weder drängend noch bedrohlich. Ich bildete mir ein, daß ich die Silben meines Namens im leisen Säuseln der Worte ausmachen konnte.
    Ich glaube nicht an Gespenster. Ich glaube nicht an das Übernatürliche. Aber als ich älter wurde, kam ich zur Überzeugung, daß die Übertragung der Willenskraft eines Menschen wie Radiowellen, die weiterwandern, wenn der Sender schon lange abgeschaltet wurde, auch nach dessen Tod andauern kann. Nina hat mir einmal erzählt, daß ein Archäologe die Stimme eines seit tausend Jahren toten Töpfers entdeckt hatte, die in den Rillen seines Topfes, dem Eisen in seinem Ton und der Vibration der Fingerspitzen erhalten war, die wie Schallplatte und Nadel wirkten. Ich weiß nicht, ob das stimmte, aber es entspricht der Überzeugung, zu der ich gekommen bin. Menschen - besonders wir wenigen mit der >Gabe< - können ihre Willenskraft möglicherweise Gegenständen ebenso aufprägen wie Menschen.
    Ich mußte wieder an Nina denken und entfernte mich hastig von der Wand. Das Flüstern verstummte. »Nein«, sagte ich laut, »das hat nichts mit Nina zu tun. Das Flüstern ist freundlich.«
    Meine beiden Begleiter sahen mich wortlos an; Anne wußte nicht, was sie sagen sollte, und Vincent konnte nichts sagen. Ich lächelte ihnen zu, und Anne lächelte zurück.
    »Kommt«, sagte ich. »Wir essen und kommen später noch einmal hierher. Grumblethorpe gefällt mir ganz außerordentlich, Anne. Es war ausgezeichnet, daß Sie mich hierher gebracht haben.«
    Anne Bishop sah mich strahlend an.
    Montagmittag hatten Anne und Vincent ein Rollbett und eine neue Matratze nach Grumblethorpe gebracht, weitere Kerzen und Kerosinheizöfen gekauft, die Küchenschränke zur Hälfte mit Dosen und haltbaren Lebensmitteln aufgefüllt, einen kleinen Butanherd auf dem riesigen Küchentisch aufgestellt und jedes Zimmer geputzt und abgestaubt. Ich ließ das Bett im Kinderzimmer aufstellen. Anne brachte saubere Laken, Decken und ihre bevorzugte Amish-Steppdecke. Vincent stellte sein neues Arsenal von Schaufeln und Eimern an einer Küchenwand ab. Ich konnte derzeit noch nichts dagegen machen, daß es keine Wasserleitungen gab - aber ich hatte ohnehin vor, die meiste Zeit bei Anne zu verbringen. Ich machte Grumblethorpe lediglich gemütlicher für meine unweigerlichen Besuche.
    Am Montagnachmittag hob Anne ihr ganzes Geld von Sparund Girokonten ab - fast zweiundvierzigtausend Dollar - und fing damit an, Aktien, Wertpapiere und Anlagen in Bargeld umzuwandeln. In einigen Fällen mußte sie dafür Strafzins bezahlen, aber das war uns allen egal. Ich verstaute das Geld in meinem Gepäck.
    Um vier Uhr - ein letzter Rest von Wintersonnenschein draußen - erstrahlte jedes Zimmer in Grumblethorpe im warmen Schein von einem Dutzend Kerzen, Salon, Küche und Kinderzimmer wurden gemütlich von den leuchtenden Kerosinheizöfen gewärmt, und Vincent hatte drei Stunden im Tunnel gegraben und die Erde in eine entlegene Ecke des Gartens unter einen gigantischen Gingkobaum geschafft. Es war eine schmutzige, schwierige und wahrscheinlich gefährliche Arbeit, aber es tat Vincent ausgesprochen gut, so eine Aufgabe zu haben. Einen Teil seiner aufgestauten Wut konnte er dabei austoben. Ich hatte gewußt, daß Vincent ziemlich kräftig war - viel kräftiger, als sein schlanker Körper und die zusammengesunkene Haltung je ahnen ließen -, aber jetzt fand ich das wahre Ausmaß seiner Kraft und beinahe dämonischen Energie heraus. An diesem ersten Nachmittag seiner Ausgrabung verlängerte er den Tunnel fast um das Doppelte.
    Ich schlief nicht in Grumblethorpe, nicht in der ersten Nacht, aber als wir die Kerzen löschten und die Heizöfen abschalteten, ging ich allein ins Kinderzimmer und blieb mit nur einer brennenden Kerze dort stehen, deren Flamme in den Knopfaugen der Flickenpuppen und den Glasaugen des lebensgroßen Jungen gespiegelt wurde.
    Das Flüstern wurde jetzt lauter. Ich konnte Dankbarkeit in dem Tonfall heraushören, auch wenn ich die eigentlichen Worte nicht verstehen konnte. Sie wünschten mir alles Gute - und baten mich zurückzukehren.
    Am Dienstag, dem Tag vor Heiligabend, schaffte Vincent eine halbe Tonne Erde hinaus. Nachdem wir einen weiteren, drei Meter langen Abschnitt freigelegt hatten, stellten wir fest, daß der restliche Tunnel größtenteils unversehrt war, abgesehen von geringen Mengen lockeren Gesteins und Erdbodens, die im Lauf von zwei Jahrhunderten heruntergefallen waren. Am Mittwochmorgen legte er den größten

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