Kraft des Bösen
Antwort verzogen, als mir bewußt wurde, daß Vincent breit grinste, sehr breit, wie das Fauchen eines Raubtiers.
Wir huschten rasch eine Gasse entlang, verweilten am Eingang zu einer Slumstraße mit rußgeschwärzten Backsteinhäusern und liefen auf der Südseite weiter, wo die dunklen Schatten hinfielen. Wir machten eine Pause, und ich ließ Vincent den Kopf in die Richtung heben, in der die acht verschwunden waren. Ich konnte Vincents Nasenflügel beben spüren, als er in der Nacht nach dem Geruch von Negern witterte.
Mittlerweile schneite es sehr heftig. Die Nacht war still, abgesehen vom fernen Läuten von Kirchenglocken, die die Ge-
burt unseres Erlösers verkündeten. Vincent senkte den Kopf, hob Sense und Spaten auf die Schulter und verschwand in einer schwarzen Gasse.
Oben in Grumblethorpe lächelte ich, drehte mein Gesicht zur Wand des Kinderzimmers und bemerkte am Rande das zischelnde Flüstern, das rings um mich herum anschwoll wie das Geräusch einer wogenden Brandung.
19. Kapitel
Washington, D.C.: Samstag, 20. Dezember 1980
»Sie wissen nichts über die wahre Natur der Gewalt«, sagte das Ding, das einmal Francis Harrington gewesen war, zu Saul Laski.
Sie gingen auf der Mall nach Osten, Richtung Capitol. Kalte Schächte abendlichen Sonnenlichts schienen auf weiße Granitgebäude und weiße Dampfwölkchen von Bus- und Autoabgasen. Ein paar Tauben hüpften zaghaft in der Nähe verlassener Bänke herum.
Saul verspürte Krämpfe in Bauchmuskeln und Oberschenkeln und wußte, das war nicht nur eine Folge der Kälte. Große Aufregung hatte ihn gepackt, sobald sie die National Art Gallery verlassen hatten. Nach all den Jahren.
»Sie betrachten sich als Fachmann auf dem Gebiet der Gewalt«, sagte Harrington auf deutsch, eine Sprache, die der Junge in Sauls Gegenwart nie benützt hatte, »aber Sie wissen nichts darüber.«
»Was meinen Sie damit?« fragte Saul auf englisch. Er steckte die Hände in die Manteltaschen. Sein Kopf war unablässig in Bewegung, er betrachtete einen Mann, der aus dem Ostflügel der National Gallery kam, sah blinzelnd zu einer einsamen Gestalt auf einer fernen Parkbank und versuchte, durch die polarisierten Scheiben einer langsam fahrenden Limousine zu sehen. Wo bist du, Standartenführer? Der Gedanke, daß sich der SS-Offizier in der Nähe aufhalten könnte, zog Saul die Bauchmuskeln zusammen.
»Sie betrachten Gewalt als eine Abweichung«, fuhr Harrington in fehlerfreiem Deutsch fort, »wo sie doch in Wahrheit die Norm ist. Sie ist die Essenz der conditio humana. «
Saul zwang sich, der Unterhaltung Aufmerksamkeit zu schenken. Er mußte den Standartenführer aus der Reserve locken - eine Möglichkeit finden, Francis der Kontrolle durch den alten Mann zu entreißen - den Offizier selbst finden, »Das ist Unsinn«, sagte Saul. »Es ist eine verbreitete Schwäche, aber ebensowenig die Essenz des menschlichen Daseins wie Krankheit. Wir löschen Krankheiten wie Polio und Windpocken aus. Wir können auch Gewalt in menschlichen Beziehungen besiegen.« Saul hatte seinen professionellen Tonfall angenommen. Wo bist du, Standartenführer?
Harrington lachte. Es war das Lachen eines alten Mannes, abgehackt, verschleimt. Saul betrachtete den jungen Mann neben sich und erschauerte. Er hatte den gräßlichen Eindruck, daß Francis’ Gesicht - kurzes, rotes Haar, Sommersprossen auf hohen Wangenknochen - wie eine Hautmaske aussah, die über den Schädel eines anderen Mannes gezogen worden war. Harringtons Körper unter dem langen Regenmantel wirkte seltsam gedrungen, als hätte sich der Junge Fettpolster zugelegt oder mehrere Pullover angezogen.
»Sie können Gewalt ebensowenig auslöschen wie Liebe oder Haß oder Gelächter«, sagte Willi von Borcherts Stimme aus Francis Harringtons Mund. »Die Liebe zur Gewalt ist ein Aspekt des Menschseins. Selbst die Schwachen wünschen sich primär, stark zu sein, damit sie selbst die Peitsche schwingen können.«
»Unsinn«, sagte Saul.
»Unsinn?« wiederholte Harrington. Sie hatten den Madison Drive überquert und befanden sich auf der Passage unterhalb des Capitol Reflecting Pool. Jetzt setzte sich Harrington auf eine Parkbank mit Blick auf die Third Street. Saul folgte seinem Beispiel, drehte sich aber ständig um und betrachtete jedes Gesicht in der Nähe. Es waren nicht viele. Keines sah dem Standartenführer ähnlich.
»Mein lieber Jude«, sagte Harrington, »sehen Sie sich doch nur einmal Israel an.«
»Was?« Saul wirbelte
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