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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Er fand - zu seinem anfänglichen Erstaunen und voller Fassungslosigkeit, die betroffenem Akzeptieren wichen - heraus, daß es eine Stufe null gab. Es gab Menschen jenseits des Fötenstadiums, die überhaupt keinerlei moralische Vorstellungen hatten; für diese Menschen waren nicht einmal Lust-Schmerz-Stimuli zuverlässige Leitsymbole - wenn man sie überhaupt als >Menschen< bezeichnen konnte.
    Jemand der Stufe null konnte einem Mitmenschen auf der Straße begegnen, diesen aus einer Laune heraus töten und weitergehen, ohne eine Spur von Reue oder Schuldgefühle zu zeigen. Individuen der Stufe null wollten nicht gefaßt oder bestraft werden, richteten ihr Handeln aber auch nicht danach aus, einer Bestrafung aus dem Weg zu gehen. Es war auch nicht so, daß die Lust an der verbotenen kriminellen Handlung schlichtweg die Angst vor Bestrafung übertraf. Leute der Stufe null konnten kriminelle Handlungen nicht von alltäglichen Verrichtungen unterscheiden; sie waren moralisch blind. Hunderte Forscher überprüften Kohlbergs Hypothese, aber die Daten schienen solide zu sein, die Schlußfolgerungen überzeugend. Zu jedem gegebenen Zeitpunkt und in jeder gegebenen Kultur gab es ein bis zwei Prozent der Bevölkerung, die sich auf der Stufe null menschlicher moralischer Entwicklung befand.
    Sie holten Saul am Montag nachmittag. Colben und Haines hielten ihn fest, während ihm ein dritter Mann eine Injektion verabreichte. Er war binnen drei Minuten bewußtlos. Als er später mit Kopfschmerzen und einem wunden linken Arm aufwachte, hatte ihm jemand etwas in den Körper eingepflanzt.
    Saul betrachtete den Schnitt, zuckte die Achseln, drehte sich um und dachte nach.
    Irgendwann am Dienstag - wann genau, wußte er nicht - ließen sie ihn frei. Haines verband ihm die Augen, während Colben zu ihm sprach. »Wir lassen Sie jetzt gehen. Sie dürfen keine sechs Blocks in jedweder Richtung über die Stelle hinaus, wo wir Sie absetzen. Sie dürfen das Telefon nicht benützen. Jemand wird später mit Ihnen Verbindung aufnehmen und Ihnen sagen, was Sie als nächstes tun müssen. Reden Sie mit niemandem, der Sie nicht zuerst anspricht. Wenn Sie eine dieser Regeln verletzen, wird es Ihrem Neffen Aaron, dessen Frau Deborah und den Kindern schlecht ergehen. Haben Sie das genau verstanden?«
    »Ja.«
    Sie führten ihn zur Limousine. Die Fahrt dauerte nicht einmal fünf Minuten. Colben zog ihm die Augenbinde herunter und stieß Saul zur offenen Tür hinaus.
    Saul stand am Bordstein und sah albern blinzelnd ins düstere Nachmittagslicht. Er sah zu spät hin und konnte das Nummernschild der davonfahrenden Limousine nicht mehr erkennen. Saul wich zurück, stieß mit einer schwarzen Frau zusammen, die eine Einkaufstasche trug, entschuldigte sich und konnte nicht aufhören zu grinsen. Er ging den schmalen Gehweg entlang und nahm jede Einzelheit der Kopfsteinpflasterstraße in sich auf, der heruntergekommenen Geschäfte, der grauen Wolken ... eine Papiertüte wehte gegen einen grünspanigen Lampenpfosten, Saul schritt rasch aus, achtete nicht auf die Schmerzen im linken Arm, überquerte an einer Ampel bei Rot die Straße und winkte dem fluchenden Straßenbahnfahrer übermütig zu. Er war FREI.
    Saul wußte, daß es eine Illusion war. Zweifellos beobachteten einige der Leute auf der Straße, an denen er vorbeikam, ihn und folgten ihm. Einige der vorbeifahrenden Autos und Lieferwagen beförderten ohne jeden Zweifel humorlose Männer in dunklen Anzügen, die in Funkgeräte flüsterten. Die Wunde an seinem Unterarm beherbergte zweifellos einen Peilsender oder eine Sprengeinrichtung oder beides. Es spielte einfach keine Rolle.
    Sauls Taschen waren leer, daher ging er zum ersten Mann, den er sah - einen hünenhaften Schwarzen im abgetragenen roten Mantel - und bat um einen Vierteldollar. Der Schwarze sah die merkwürdige bärtige Erscheinung an, hob eine gewaltige Faust, als wollte er Saul wegstoßen, schüttelte den Kopf und gab Saul einen Fünfdollarschein. »Laß dir helfen, Bruder«, knurrte der Gigant.
    Saul ging in einen Imbiß an der Ecke, ließ sich den Fünfer in Vierteldollarmünzen wechseln und rief vom Münzfernsprecher im Vorraum die israelische Botschaft in Washington an. Sie konnten ihn weder mit Aaron Eshkol noch mit Levi Cole verbinden. Saul nannte seinen Namen. Die Telefonistin stöhnte nicht hörbar auf, aber ihr Tonfall veränderte sich, als sie sagte: »Ja, Dr. Laski. Wenn Sie bitte eine Minute dranbleiben würden, ich bin sicher, Mr.

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