Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
Muskelgewebe bestanden. Culley war ein Schwachkopf und konnte kaum zusammenhängend sprechen, war aber so schnell und behende auf den Füßen wie eine Raubkatze. Howard erklärte mir, daß Culley stellvertretender Vorarbeiter der Parkgärtnerei gewesen war, bevor er vor sieben Jahren wegen Totschlag eingesperrt wurde. Letztes Jahr war er zurückgekehrt und arbeitete auf der untersten und härtesten Stufe der Instandhaltungsarbeit - Baumstümpfe entfernen, alte Gebäude abreißen, Asphaltwege und Straßen pflastern, Schnee räumen. Culley hatte ohne Murren gearbeitet und war nicht mehr auf Bewährung.
    Culleys Kopf verjüngte sich von der breitesten Stelle an der Verbindung von Hals und Kiefer bis zur schmälsten Stelle auf der Kuppe eines fast spitzen Schädels, mit einem derart kurzen und rauhen Bürstenschnitt, daß es aussah, als wäre er von einem blinden, sadistischen Friseur geschnitten worden.
    Howard hatte Culley erzählt, daß sich ihm eine einmalige berufliche Gelegenheit böte, wenn auch mit schlichteren Worten. Ihn ins Krankenhaus zu bringen war meine Idee gewesen.
    »Das da ist dein Boß«, sagte Howard und deutete auf das Bett, in dem die Hülle meines Körpers lag. »Du wirst ihr dienen, sie beschützen und, wenn es sein muß, dein Leben für sie geben.«
    Culley gab einen Laut von sich wie eine Katze, die sich räuspert. »Lebt die alte Vettel überhaupt noch?« sagte er. »Die sieht ja mausetot aus.«
    Da drang ich in ihn ein. Ich fand wenig in dem spitzen Schädel, abgesehen von Grundbedürfnissen - Hunger, Durst, Angst, Stolz, Haß und dem Drang, zufriedenzustellen, der auf einem vagen Wunsch basierte, dazuzugehören, geliebt zu werden. Dieses letzte Bedürfnis machte ich mir zunutze und baute es aus. Culley saß achtzehn Stunden ununterbrochen in meinem Zimmer. Als er das Krankenhaus verließ, um Howard beim Packen und anderen Reisevorbereitungen zu helfen, war nichts mehr von dem ursprünglichen Culley übrig, abgesehen von seiner Größe, Kraft, Schnelligkeit und dem Wunsch, zufriedenzustellen. Mich zufriedenzustellen.
    Ich habe nie herausgefunden, ob Culley sein Vor- oder Nachname war.
    Als ich jung war, hatte ich, wohin ich auch reiste, eine Schwäche: ich konnte Souvenirs nicht widerstehen. Sogar mit Willi und Nina in Wien wurden meine zwanghaften Souvenirkäufe für meine Gefährten bald eine Quelle endloser Scherze auf meine Kosten. Inzwischen war es Jahre her, seit ich zum letzten Mal gereist war, aber meine Schwäche für Souvenirs war nicht völlig verschwunden.
    Am Abend des 16. März ließ ich Howard und Culley nach Germantown fahren. Die traurigen Straßen dort waren für mich wie die Landschaft eines halb vergessenen Traums. Ich glaube, Howard wäre in dem Negerviertel nervös geworden - trotz seiner Konditionierung -, hätte er sich nicht in der beruhigenden Gegenwart von Culley befunden.
    Ich wußte, was ich wollte; ich erinnerte mich an seinen Vornamen und die Beschreibung, aber sonst an nichts. Die ersten vier Jugendlichen, die Howard ansprach, verweigerten entweder eine Antwort oder reagierten mit blumigen Beschimpfungen, aber der fünfte, ein wuschelköpfiger Zehnjähriger, der trotz der bitteren Kälte nur ein zerrissenes Sweatshirt trug, sagte: »Klar, Mann, du meinst Marvin Gayle. Der is gerade aus’m Knast gekommen, Mann, wegen Landfriedensbruch oder so’m Scheiß. Was willst’n von Marvin?«
    Howard und Culley lockten die Wegbeschreibung zu seinem Haus aus dem Jungen heraus, ohne diese Frage zu beantworten. Marvin Gayle wohnte im ersten Stock eines verfallenen, mit Schindeln gedeckten Hauses, das zwischen zwei überhängenden Mietskasernen eingequetscht stand. Ein kleiner Junge machte die Tür auf, Culley und Howard betraten ein Wohnzimmer mit einem durchgesessenen Sofa mit rosa Tagesdecke, einem uralten Fernseher, in dem ein Showmaster mit grünem Gesicht enthusiastisch jubilierte, abblätternden Wänden mit einigen religiösen Motiven und einer Fotografie von Robert Kennedy und einem Teenagermädchen, das auf dem Bauch lag und mit leerem Blick zu den Besuchern aufsah.
    Eine große schwarze Frau kam aus der Küche und trocknete sich die Hände an einer karierten Schürze ab. »Was wollen Sie?«
    »Wir würden gern einmal mit Ihrem Sohn sprechen, Ma’am«, sagte Howard.
    »Weswegen?« wollte die Frau wissen. »Sie sind nicht von der Polizei. Marvin hat nichts getan. Lassen Sie meinen Jungen in Ruhe.«
    »Nein, Ma’am«, sagte Howard ölig, »nichts dergleichen. Wir

Weitere Kostenlose Bücher