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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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hatte.
    Das Begräbnis war altmodisch gewesen, mit stundenlanger Besuchszeit in der alten Leichenhalle. Freunde und Verwandte waren gekommen und an dem offenen Sarg vorbeigegangen, und Natalie, die traurig schweigend neben ihrem Vater saß, war es, als hätte es tagelang gedauert. Sie hatte die vergangenen zwei Tage geweint und keine Tränen mehr in sich, während sie die Hand ihres Vaters hielt, aber einmal verspürte sie den starken Drang, aufs Klo zu gehen, was sie ihrem Vater zuflüsterte. Er stand auf, um mit ihr zur Toilette zu gehen, aber in diesem Augenblick kam ein neuerliches Kontingent Verwandte zu ihm, und eine ältere Tante hatte sich erboten, mit ihr zu gehen. Die alte Dame hatte ihre Hand ergriffen und sie durch Flure geführt, durch mehrere Türen und eine Treppe hinauf, bis sie schließlich auf eine weiße Tür deutete.
    Als Natalie wieder herauskam und den Rock ihres steifen dunkelblauen Kleids nach unten strich, war die alte Tante nicht mehr da. Natalie wandte sich zuversichtlich nach links statt nach rechts, ging durch Türen, Treppen hinab und Flure entlang, und hatte sich binnen einer Minute verirrt. Sie hatte keine Angst. Sie wußte, Kapelle und Besuchszimmer nahmen fast den ganzen Teil des Erdgeschosses ein, und wenn sie genügend Türen aufmachte, würde sie ihren Vater finden. Was sie nicht wußte, die hintere Treppe führte direkt in den Keller.
    Natalie hatte zwei Türen aufgemacht, die in kahle, leere Zimmer führten, als sie eine Tür aufstieß und das Flurlicht Stahltische, Regale mit großen Flaschen voll dunkler Flüssigkeit und lange, hohle Stahlnadeln an dünnen Gummischläuchen enthüllte. Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen, war in dem langen, dunklen Korridor zurückgewichen und hatte sich umgedreht, um zu der breiten Doppeltür zu laufen. Sie hatte einen großen Raum voller Kisten halb durchquert, als ihre Augen sich an das schwache Licht gewöhnten, das zu den zugezogenen Fenstern hereindrang.
    Natalie blieb mitten in dem Zimmer stehen. Kein Lufthauch bewegte die stehende Luft. Die Umrisse ringsum waren keine Kisten; es waren Särge. Das schwere, dunkle Holz ihrer Oberflächen schien das gedämpfte Licht aufzusaugen. Die Deckel mehrerer Särge waren aufgeklappt, genau wie bei dem ihrer Mutter. Keine fünf Schritte von Natalie entfernt stand ein kleiner, weißer Sarg - genau ihre Größe - mit einem Kruzifix darauf. Jahre später wurde Natalie klar, daß sie in einen Lageroder Ausstellungsraum für Särge geraten war, aber in dem Augenblick war sie überzeugt, daß sie allein in einem halbdunklen Raum mit Särgen voller Toter stand. Sie rechnete jeden Augenblick damit, daß Leichen mit blassen Gesichtern sich starr wie Klappmesser in eine sitzende Haltung aufrichten würden, um die Köpfe in ihre Richtung zu drehen und die Augen aufzuschlagen wie freitags nachts in den Vampirfilmen, die sie und ihr Dad immer ansahen.
    Es gab noch eine andere Tür, aber die schien meilenweit entfernt zu sein, und um zu ihr zu gelangen, mußte Natalie in Reichweite von vier oder fünf der dunklen Särge vorbeigehen. Sie tat es, sah aber starr geradeaus zu der Tür und ging langsam, während sie darauf wartete, daß blasse Arme nach ihr greifen würden, aber sie weigerte sich, zu schreien oder zu laufen. Es war ein zu wichtiger Tag; es war die Beerdigung ihrer Mutter, und sie hatte ihre Mutter sehr lieb.
    Natalie war zu der Tür gegangen, eine beleuchtete Treppe hinaufgestiegen und kam in einen Raum bei der Eingangstür heraus. »Da bist du ja, Kind!« rief die ältliche Tante und brachte sie zurück ins Nebenzimmer zu ihrem Vater, während sie sie ermahnte, ja nicht wieder zum Spielen wegzulaufen.
    Sie hatte seit einem Dutzend Jahren nicht mehr an diesen alten Alptraum gedacht, aber als sie mit Justin, der sie mit den irren Augen einer alten Frau in dem blassen, pummeligen Gesicht ansah, in Melanie Fullers dunklem Salon saß, war Natalies Reaktion dieselbe wie in ihrem Traum, als die Sargdeckel tatsächlich aufgeklappt worden waren, als sich ein Dutzend Leichen tatsächlich steif aufgerichtet hatten und zwei Dutzend Hände tatsächlich nach ihr gegriffen und sie - die Widerstand leistete, aber immer noch nicht schrie - auf den kleinen weißen Sarg zu gezogen hatten, der leer war und nur auf sie wartete.
    »Ein Penny für deine Gedanken, Teuerste«, sagte die Stimme der alten Frau aus dem Mund des Kindes, das ihr gegenübersaß.
    Natalie erwachte ruckartig. Es war das erste Mal, daß eine

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