Kramp, Ralf (Hrsg)
Gegen 23.30 Uhr erste Geräusche. Diesmal ganz leise nach oben geschlichen. Mit der schweren Spaltaxt in der Hand ziemlich sicher gefühlt. Erstes Zimmer lag still und einsam. Aber aus dem zweiten hörte ich ein Schaben und Kratzen. Langsam die angelehnte Tür aufgedrückt. Niemand zu sehen. Aber das Kratzen. Sie sind hinter der Wand. Widerliche Plagegeister. Ich holte mit der Axt aus und ließ sie krachend auf die Eichenholzverkleidung niedersausen. Splitter flogen mir entgegen. Wie besessen schlug ich immer wieder zu. Zwischendurch zerrte ich an den Paneelen. Meinen Schatz hinter mir erst bemerkt, als sie versuchte, mich zurückzureißen. Um Gottes willen, lass das, hat sie geschrien. Hab sie wohl ein bisschen geschubst und dann weiter zugeschlagen. Jetzt würde jemand bereuen, dass er mir die so dringend benötigte Erholung geraubt hat. Endlich großes Stück rausgebrochen und mich durch die Dämmwolle gewühlt. Jetzt bestialischer Gestank. Kriegte etwas zu fassen. Fühlte sich starr an. Starr vor Angst, dachte ich noch, während ich zog. Ziemlich schwer. Wusste doch, es musste was Größeres sein. Licht her. Gleich wieder losgelassen. Ein Fuß, ein ganzes Bein. Menschlich! Aber schwarzbraun und irgendwie eingetrocknet, zwei Fußnägel sind mir in der Hand geblieben. Meinen Schatz gepackt und mit ihr, so wie sie war, im Nachthemd und ohne Pantoffeln, auf die Straße gerannt. Laut bei Nachbarn um Hilfe gerufen.
Sind nie mehr zurückgekehrt. Polizei und Feuerwehr waren so nett, unsere paar Sachen für uns rauszustellen. Insgesamt haben sie wohl Teile von mindestens sechs Frauen gefunden. Auch im Garten. Suchen deshalb nach den letzten Mietern. Einen haben sie besonders im Verdacht. Hat irgendwelche astrologischen Lebensberatungen per Internet gemacht, als »Madame Charolais«. War aber eigentlich gelernter Fleischerei-Fachverkäufer.
Der Lärm kam hoffentlich doch von diesen Kleinnagern. Haben aber nie einen zu Gesicht bekommen.
Es fährt ein Zug nach Gerolstein
VON R ALF K RAMP
Rico Diamond stand in der Tür. Der Blick aus seinen rotgeränderten Augen war der eines Irren, seine Hände zitterten, ein Schweißfilm klebte auf seiner Stirn.
Stumm schnappte er nach Luft und klammerte sich am Rahmen der Hotelzimmertür fest.
»Du hast Dein Toupet nicht an, Rico.«
»Ich weiß, aber ...«
»Wenn dich einer sieht! Das Hotel ist voll, Mann!«
»Das ist mir egal. Hör zu, Günni, ich ...«
»Komm rein, bevor dich einer sieht.«
Aber Rico Diamond blieb bibbernd im Rahmen stehen. »Ich kann meine linke Socke nicht finden, Günni. Meine linke Socke ist weg. Weißt du, was das bedeutet?«
Günni biss sich auf die Lippen. Es war schlimmer, als er gedacht hatte. Nicht nur, dass Rico vergessen hatte, sein Toupet aufzusetzen, wo doch jeder im Hotel ihn sehen konnte, nein, jetzt auch noch so was.
»Sie wird schon irgendwo ...«
»Sie ist weg, Günni! Weg!«
»Das Zimmermädchen ...«
»Ich habe jeden verdammten Angestellten in diesem Hotel gefragt, Günni ...«
»Gefragt? Ohne Toupet?«
»Sie ist weg! Es geht wieder los!«
Günni Kovacz hatte schon viel erlebt. Die Neurosen seiner Schäfchen hatten ihm zu Beginn seiner Laufbahn den Schlaf geraubt. Es hatte ihn geängstigt, wenn die eine nur Mondwasser trank, wenn der andere ohne vier Kilo Büffelmozzarella in der Garderobe nicht auftrat oder wenn wieder ein anderer nur auf einer Matratze schlief, die mit Allgäuer Weidenheu aus dem letzten August gefüllt war. Später hatte er sich an die Macken und Nörgeleien gewöhnt. Sie waren nur Menschen, und er hatte sie irgendwann alle in den Griff gekriegt. Für die meisten dieser Künstler war er mit seinen fünfundsechzig Jahren eine Art Vaterfigur. Einer, der geradebog, was schief geraten war, einer, der sie ernst nahm, sie behütete und ihnen die Wünsche von den Augen ablas.
Rico Diamond war ein spezieller Fall.
Eigentlich hieß er Franz Knettenbrech. Mit einem Namen wie diesem hätte er es natürlich niemals geschafft. Aber Franz ... oder Rico ... hatte Gold in der Kehle. Vor dreißig Jahren hatte Günni ihn auf einem Schützenfest am Niederrhein entdeckt. Da hatte er selbst getextete Liedchen geträllert. Ein fünfundzwanzigjähriger Schlosserlehrling mit pechschwarzem Haar.
Nun, Rico ... oder Franz ... war jetzt keine fünfundzwanzig mehr und hatte auch kein pechschwarzes Haar mehr. Aber dafür war er im deutschen Sprachraum ebenso bekannt wie Heino oder Karel Gott. Er hatte auf jeder Bühne Deutschlands
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