Krampus: Roman (German Edition)
»Falls du was klauen willst, wir haben nichts.«
»Wir sind keine Diebe«, sagte Krampus mit ruhiger, hypnotischer Stimme. »Ich bin der Herr der Julzeit, und ich bringe euch Geschenke.«
Neugier flackerte in ein paar Gesichtern auf. Die Kinder schauten zu ihrer großen Schwester hinüber.
Die bedachte Krampus mit einem kalten, zynischen Blick. »Niemand schenkt einem was, ohne etwas dafür zu verlangen. Was willst du?«
»Für dein Alter bist du sehr klug. Wie heißt du, mein Kind?«
Das Mädchen zögerte. »Wer will das wissen?«
Der Herr der Julzeit grinste. »Ich bin Krampus.«
»Also, Krampus, ich heiße Carolyn, und das hier sind Chris, Curtis, Casey und Clayton, und das da drüben ist Charlene.«
Krampus nickte jedem der Kinder einzeln zu. Das Kleinkind blickte zu ihm auf und fing an zu wimmern. Ein Junge, vermutlich nicht älter als vier, zog das Kind auf seinen Schoß, schob ihm den Schnuller in den Mund und tätschelte ihm beruhigend den Rücken.
Mit leisen Schritten ging Krampus zu den Kindern und nahm den Sack vom Rücken.
Das Mädchen blieb, wo es war. Sie wirkte zu Tode geängstigt, aber Jesse sah ihr an, dass sie sich lieber windelweich prügeln lassen würde, ehe sie zuließ, dass jemand Hand an ihre Geschwister legte, und sei es ein gehörnter Dämon.
Der kleine Junge krabbelte hinter seine große Schwester und fing erneut zu weinen an.
»Casey, ich hab dir doch gesagt, dass du Ruhe geben sollst. Du weißt, dass Pa keine Tränen sehen will.«
»Bitte … sorgt euch nicht.« Krampus ging vor ihnen auf ein Knie. Er stellte den Sack zwischen den Kindern ab, steckte die Hand hinein, schloss die Augen und zog eine Handvoll dreieckiger Goldmünzen daraus hervor.
Ihre Augen leuchteten auf wie von dem uralten Gold verzaubert. Krampus überreichte jedem Kind eine Münze und erzählte ihnen dann vom Julfest, von den alten Bräuchen, von Schuhen auf der Treppe und Belohnungen für die Gläubigen. Wie gebannt hingen sie an seinen Lippen und lauschten. Bald war jede Spur von Angst verflogen.
Als Krampus fertig war, stand er auf, wünschte ihnen ein frohes Julfest und machte sich mit seinen Begleitern auf den Weg zur Tür. Die Kinder liefen ihnen nach.
»He«, sagte Jesse zu Carolyn. »Achte darauf, dass euer Vater die Münzen nicht sieht.«
Das Mädchen nickte, als hätte es längst daran gedacht.
»Bringt sie zum Dicker-Pfandleihhaus und fragt nach Finn. Bei dem kommt ihr besser weg als bei den anderen.«
»Ja«, warf Chet ein. »Richtet ihm aus, Chet Boggs hätte gesagt, dass er besser fair zu euch ist. Alles klar?«
Einmal mehr nickte das Mädchen.
Beim Schlitten stießen Jesse und Chet wieder zu den übrigen Belznickeln. Krampus ließ die Zügel schnalzen, und die Julböcke sprangen mit einem Satz in die Lüfte. Jesse drehte sich noch einmal zu den Kindern um, deren kleine Gesichter voll Verwunderung zu ihnen emporblickten. Carolyn hob den Arm und winkte, und ihre Geschwister taten es ihr nach. Jesse winkte zurück.
***
Getrieben von dem bei Tagesanbruch aufkommenden Wind, zogen schwarze Rauchwolken über die Gärten hinweg und zwischen den Hecken hindurch. Hier und da knisterten noch vereinzelt Flammen. Die verkohlten Balken und Steine des Stalls ragten als nacktes Gerippe in den Morgenhimmel empor.
Sechs Frauen durchstöberten die schwelenden Scheite mit Heugabeln und Rechen. Ihre schmutzigen, rußverschmierten Kleider klebten ihnen an den verschwitzten Leibern, ihre Hände und ihre tränenüberströmten Gesichter waren von Asche bedeckt.
»Hier«, rief die Frau mit den langen weißen Haaren. »Hier ist er.«
Die anderen ließen die Rechen und Mistgabeln fallen, rannten herbei und zogen die verstümmelte Leiche mit bloßen Händen aus der Asche. Einige wandten sich ab, weil sie den Anblick des verkohlten, kopflosen Körpers nicht ertragen konnten.
»Helft mir«, sagte die Frau.
Zusammen hoben sie den Toten hoch und trugen ihn über den Hof und über einen schmalen Fußweg außerhalb der Mauern zu einer kleinen, aus einem einzigen Raum bestehenden Kapelle mit Seeblick. Dort legten sie ihn auf einen Steinblock unter einem kreuzförmigen Fenster aus goldgefärbtem Glas. Eine der Frauen holte Tücher und einen Eimer Meerwasser. Gemeinsam wuschen sie den Leib und wischten Schmutz und Ruß ab. Das Feuer hatte all die Kleider komplett verbrannt, den Körper jedoch verschont. Seine Haut glänzte weiß wie Porzellan und war makellos, mit Ausnahme der großen Wunden, die der Speer ihm
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