Krampus: Roman (German Edition)
nicht aufwachten, während Krampus die Kinder traumatisierte. Bei dieser Gelegenheit stellten sie fest, dass der Schlafsand auch bei den Shawnees gut funktionierte, als im Übereifer eine Handvoll davon den Weg in Nipis Gesicht fand. Vernon behauptete, es sei ein Versehen gewesen, aber Jesse hatte da seine Zweifel. Nipi schlief während der nächsten paar Stationen auf dem Schlitten tief und fest.
»Was ist das?« Krampus zeigte nach unten.
Jesse spähte aus dem Schlitten, sah jedoch nur Wald und Tagebaugruben.
Unvermittelt ging Krampus in Sinkflug und steuerte an der Kante einer riesigen Grube entlang. Mit entsetzter Miene starrte er auf die verwüstete Landschaft hinab, und Jesse wurde klar, dass er die kilometerweiten Flächen bloßliegender Erde und die gesprengten Berggipfel meinte.
Krampus ließ den Schlitten auf einem Plateau landen, von dem aus sie den menschengemachten Krater überblicken konnten. Die ersten Ausläufer der Morgendämmerung krochen über den Horizont und erhellten die kahle, hässliche Narbe in der Landschaft. »Es geht, so weit das Auge reicht.« Stirnrunzelnd versuchte der Herr der Julzeit, sich einen Reim auf das zu machen, was er da sah. »Das da haben Menschen getan?«
Jesse nickte. »Ja.«
»Mit Absicht?«
Jesse nickte.
Krampus verfiel in Schweigen. »Warum sollten sie den Wald zerstören, den Berg … das Land selbst?«
»Wegen der Kohle. Sie sprengen die Bergkuppen weg, um die Kohle fördern zu können.«
Verwundert schüttelte Krampus den Kopf. »Das ist, als würde man sich den Arm abschneiden, um ihn zu essen.«
Obwohl Jesse dieser Gedanke noch nie gekommen war, fand er, dass man es durchaus so betrachten konnte.
Der Herr der Julzeit ließ die Schultern sinken. »Bald wird es keine Heimstatt mehr für Geister geben … die Erde wird zum seelenlosen Land … ein Ort der Toten, genau wie Asgard.« Er fuhr sich mit den Fingern über die Wangen, wobei er sein Gesicht in eine Maske der Verzweiflung verwandelte. »Ist die Menschheit wirklich so voll Selbsthass?« Seine Stimme wurde leiser, bis sie kaum mehr als ein Flüstern war. »Was kann man einer derartigen Respektlosigkeit nur entgegensetzen?«
Krampus wandte den Blick ab und schaute in das langsam heller werdende rosafarbene Licht am Horizont. »Ich glaube, das genügt für eine Nacht. Lasst uns zurückkehren.« Er ließ die Zügel schnalzen, sie hoben ab und folgten dem Talverlauf zurück Richtung Goodhope.
***
»Seht!«, rief Isabel und zeigte auf ein näher rückendes Haus unter ihnen. »Ist das ein kleines Mädchen?«
»Wo?«, fragte Jesse.
»Dort unten. Was macht die Kleine morgens um diese Zeit ganz alleine draußen?«
Jesse sah sie mitten auf einem weiten Feld im Schnee stehen. Etwas weiter oben am Hang entdeckte er ein Haus und einen Wohnwagen. Es waren die einzigen Gebäude im Umkreis von mehreren Kilometern.
Der Schlitten ging auf Wipfelhöhe, und das Mädchen blickte zu ihnen auf, als sie über es hinwegflogen. Jesse vermutete, dass sie nicht älter als sechs oder sieben war.
»Krampus«, sagte Isabel. »Bitte lande.«
Vernon beugte sich vor. »Falls wir abstimmen: Ich bin dagegen.«
Auch Krampus schien nicht landen zu wollen. Seit ihrem Abstecher bei der Tagebaugrube hatte er nicht ein Wort von sich gegeben. Jetzt schnaubte er und ließ den Schlitten zwischen dem Kind und dem Haus aufsetzen.
Das Mädchen sah zu, wie sie ausstiegen und den Hang hinab auf es zukamen. Sie rannte nicht weg und wirkte auch kein bisschen verängstigt, nicht einmal sonderlich überrascht. Unter ihrer abgetragenen Flanelljacke, die ihr viel zu groß war, lugte der Saum ihres Nachthemds hervor. Von den Knien an abwärts waren ihre Beine schutzlos der Kälte ausgesetzt. Jesse sah, dass sie nichts als Socken an den Füßen trug. Sie war viel zu dünn, zitterte und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihr verfilztes, fettiges Haar klebte ihr am Schädel. Sie hatte eine Schaufel dabei, die in ihren winzigen Händen riesig wirkte. Offenbar hatte sie versucht, ein Loch in den gefrorenen Boden zu graben.
Isabel beugte sich vor und nahm das Mädchen bei der Hand. »Du bibberst ja. Wann hast du zum letzten Mal etwas gegessen?«
Die Kleine wischte sich mit dem Ärmel die Nase und blickte zu Krampus auf. »Bist du der Satan?«
»Nein, der bin ich nicht. Ich bin Krampus, der Herr der Julzeit. Und wer bist du?«
»Bist du hier, um meinen Daddy in die Hölle mitzunehmen?«
Krampus schüttelte den Kopf. »Nein, mein Kind. Warum
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