Krampus: Roman (German Edition)
zog angewidert die Nase kraus.
Daraufhin brach Jesse in Gelächter aus und prustete Kekskrümel über den Tisch auf ihren Schoß.
»Igitt«, rief sie, aber Lacy strahlte, und sie kicherte, wie man es von kleinen Mädchen erwartet. Es klingt gut, dachte Jesse und kam zu dem Schluss, dass es vielleicht doch noch ein glimpfliches Ende mit ihr nehmen würde.
Isabels finstere Miene besänftigte sich, und auch sie begann zu grinsen. »Jesse ist lustig, was? Ein echter Clown.«
Lacy bewegte den Kopf erst von oben nach unten und dann von links nach rechts, und ihre alberne Art erinnerte Jesse so sehr an Abigail, dass es ihm vorkam, als hätte ihm jemand einen Schlag gegen die Brust versetzt. Tränen brannten in seinen Augen, und mit einem Mal vermisste er seine Tochter so sehr, dass es ihm körperliche Schmerzen bereitete. Jesse nahm den Keks aus dem Mund, stand auf und ging ans Fenster. Er wollte nicht, dass die anderen ihn mit den Tränen kämpfen sahen.
Wo ist Abi jetzt? Ist sie in Sicherheit? Er stützte die Ellbogen auf das alte Klavier und betrachtete die abendliche Winterlandschaft. Hatte Dillard inzwischen von dem Massaker beim General erfahren? Wenn ja, was würde er unternehmen? Wie weit würde er gehen, um seine eigene Verwicklung in die Angelegenheit zu vertuschen? Waren Linda und Abigail in Gefahr? Er wird sie schon nicht töten, so weit geht er nicht. Jesse fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Mach dir nichts vor. Du weißt ganz genau, wozu dieser Mann fähig ist. Er wird sie aus dem Weg räumen wollen, und zwar so bald wie möglich.
Als er eine Hand auf der Schulter spürte, drehte er sich um.
»Du machst dir Sorgen um dein kleines Mädchen«, sagte Isabel. »Stimmt’s?«
Er nickte. »Ich würde alles darum geben, wenn ich sie jetzt einfach nur in den Arm nehmen könnte.«
»Es ist schwer, ich weiß. Das Gefühl, dass jemand einen braucht und dass man nicht für ihn da sein kann … dass man nicht das Geringste tun kann. Es zerreißt einen innerlich.«
Jesse merkte, dass sie ihm noch etwas sagen wollte. Er wartete, ließ ihr die nötige Zeit.
»Neulich, als ich dir erzählt habe, wie ich mich umbringen wollte … das war noch nicht alles.«
»Das dachte ich mir schon.«
»Mein Sohn … er heißt Daniel.«
Er konnte seine Überraschung nicht verbergen. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass Isabel ein Kind hatte.
»Ich vermisse ihn … Tag für Tag.« Sie wartete darauf, dass er etwas erwiderte, aber Jesse wusste nicht, wie er auf dieses Geständnis reagieren sollte. »Es war nicht irgendeine schnelle Nummer«, fuhr sie fort. »So war das nicht. Ich habe ihn geliebt. Sehr sogar. Der Junge ist nach ihm benannt.«
Jesse nickte.
Sie musterte ihn ein Weilchen. »Manchmal fällt es den Leuten schwer, das zu verstehen. Sie neigen dazu, das Schlimmste von einem zu denken.«
»Ich bin nicht in der Position, mir ein Urteil über irgendjemanden anzumaßen. Und selbst wenn, würde ich nicht schlecht von dir denken.«
»Ich weiß. Inzwischen ist es mir auch ziemlich egal, was andere von mir denken, zumindest was das angeht. Aber du sollst wissen, warum die Dinge bei mir so gelaufen sind. Warum ich mein eigenes Kind verlassen habe.«
Die beiden sahen zu, wie Lacy mit einem der Kekse zu Freki hinüberging. Sie war kaum größer als der Kopf des Wolfs. Freki schnupperte an dem Keks und leckte ihn dem kleinen Mädchen dann direkt aus der Hand. Lacy kicherte.
»Ich hatte nicht viele Freunde«, sagte Isabel. »Schließlich war ich eine Mullins. Die Leute sind uns meistens aus dem Weg gegangen, weil unsere Familie zu Geisteskrankheiten neigt. Deshalb ist irgendwann auch mein Vater weggelaufen, wegen der Anfälle meiner Mutter. Daniel kannte ich seit meinem sechsten Lebensjahr, er war der einzige echte Freund, den ich jemals hatte. Aber für Mama spielte das keine Rolle. Sie erlaubte mir nicht, mit ihm auszugehen. Ihrer Meinung nach war ich zu jung, und vielleicht war ich es auch. Also haben wir uns heimlich getroffen, fast ein Jahr lang. Während der ganzen Zeit haben wir nicht viel mehr getan, als uns zu küssen und Händchen zu halten. Na schön, Daniel hat ein paar halbherzige Annäherungsversuche unternommen, aber er war wahnsinnig schüchtern dabei. Er war schon immer ziemlich unbeholfen, und die anderen Jungs haben ihn oft damit aufgezogen. Aber genau das mochte ich an ihm … er war so ein ungelenker Kindskopf. Das hatte etwas unglaublich Süßes an sich. Dann wurde er eingezogen. Nach
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