Krampus: Roman (German Edition)
Mensch.«
»Es gibt noch andere Dinge als Götter, in die man Vertrauen setzen kann. Weltliche Dinge.«
»Da hast du wohl recht.«
»Glaubst du, dass die Schatten voll dunkler Geister sind, die nur darauf warten, Jagd auf alle Unvorsichtigen zu machen?«
»Wie bitte? Nein.« Jesse lachte, aber dann bemerkte er die missmutige Miene seines Gegenübers. »Na schön … manchmal, wenn ich nachts allein bin, kann ich mich ziemlich gruseln, falls du das meinst.«
Krampus lachte nicht, er verzog nicht mal die Lippen zu einem Lächeln. Sein Blick wanderte wieder zum Feuer. »Ich fürchte, die meisten Menschen dieses Zeitalters sind genau wie du. Sie haben vergessen, wie es ist, sich in seiner Hütte zusammenzukauern, während draußen vor der Tür die Tiere und Ungeheuer heulen. Es verlangt sie nicht länger nach einem großen, schrecklichen Geist, der sie beschützt. Sie haben jegliche Angst vor der Wildnis verloren, ebenso wie das Bedürfnis, an etwas zu glauben. Ich kann es ihnen nicht verdenken, denn inzwischen haben sie die Macht, die Schatten zu verscheuchen, indem sie einfach einen Schalter umlegen. Ich muss mich also fragen, welche Rolle ich noch spielen kann in einer Welt, in der die Menschen eine Kiste mit bewegten Bildern verehren, in der sie Tränke bereiten und einnehmen, die ihnen das Gehirn zerfressen, in der sie ganze Berge verwüsten und plündern und sogar die Erde töten? Die Menschen haben ihre Verbindung zur Erde, zu den Tieren und Geistern verloren. Sie sammeln ihre Nahrung nicht mehr im Wald und auf den Feldern, sondern holen sie aus Plastikschachteln und Kühltruhen. Ihr Leben ist nicht mehr mit dem Kreislauf der Jahreszeiten und der Ernte verbunden, und sie brauchen den Herrn der Julzeit nicht mehr, damit er das Winterdunkel vertreibt und das Licht des Frühlings bringt. Der Mensch hat nur noch sich selbst zu fürchten … Er ist der schlimmste aller Teufel geworden.«
Mit diesen Worten hob Krampus einen der Äste auf, die die Shawnees gesammelt hatten, zerbrach ihn und schob die Stücke in den Ofen. »Während meiner Zeit in der Höhle habe ich Zeitung gelesen, ich habe von all diesen Veränderungen gelesen, aber ich habe ihre wahre Bedeutung nicht begriffen … die Wirkung, die sie entfaltet haben. Ich musste mich erst mit eigenen Augen davon überzeugen. Ich befürchte, dass Baldr die Wahrheit gesprochen hat: Die Welt hat sich wirklich weiterentwickelt, und es gibt auf ihr keinen Platz mehr für mich. Inzwischen verstehe ich, wie er so tief sinken konnte. Baldr hat all das vorhergesehen, und er hat versucht, mich zu warnen. Er hat den Menschen gegeben, was sie sich wünschten, eine schöne Lüge, und sie haben ihm geglaubt, weil schöne Lügen immer leichter zu glauben sind als die hässliche Wahrheit.«
Krampus kratzte sich die Schulter und grub die langen Fingernägel in die verschorften Wunden. Er verzog das Gesicht, pulte eine Schrotkugel aus dem Fleisch und rollte das blutige Stück Metall zwischen den Fingern hin und her. »Wie soll ich einem Volk den Glauben nahebringen, das dessen Macht gar nicht begreift? Wenn sie nicht glauben, wird die Mutter Erde verdorren und die Julzeit wird dahinschwinden … Auch ich werde schwinden, genau wie alle Geister und Götter vor mir.«
***
Über der kleinen Kirche brach die Nacht herein, und die sich ausbreitende Düsternis passte zu der Stimmung im Raum. Krampus starrte noch immer mit einer Flasche Met in der Hand und dem Sack zu seinen Füßen in die Flammen. Die Belznickel blieben auf Abstand, und selbst die Wölfe hielten sich von ihm fern.
Jesse saß im Schneidersitz vor einem Halmaspiel auf dem Boden. Lacy hatte eine alte Spielesammlung gefunden, und es war ihr gelungen, Jesse und Vernon als Mitspieler für sie und Isabel zu gewinnen.
»Jetzt mach«, sagte Lacy und stieß Jesse an.
»Was?«
»Du bist dran … immer noch«, erklärte Vernon. »Wenn du in Gedanken bei dem Spiel wärst, müssten wir dich nicht dauernd daran erinnern.«
»Ach so, Entschuldigung«, erwiderte Jesse geistesabwesend und bewegte den erstbesten Spielstein.
»Ha!«, sagte Isabel, und ein triumphierendes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie sich seinen Zug zunutze machte, um einen eigenen Stein quer übers Brett zu bewegen.
»Das war wirklich brillant«, sagte Vernon. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
Jesse nickte. Er hörte Vernons Worte kaum, weil er immerzu den Herrn der Julzeit im Auge behielt, in der Hoffnung, dass dieser
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