Krampus: Roman (German Edition)
tot umfiel. Angeblich war die darauffolgende Stille ohrenbetäubend. Der arme Hödur konnte die entsetzten Gesichter nicht sehen, und Loki konnte sie nicht ertragen. Er floh. Odins Kummer kannte kein Maß, und er ließ Hödur für seine Tat hinrichten.«
Krampus schüttelte den Kopf. »Ich hatte immer Mitleid mit Hödur – letztlich ein Bauer in einem von Neid und Missgunst bestimmten Spiel. Er lud die Schuld am Tod seines geliebten Bruders auf sich, nur um daraufhin von seinem eigenen Vater getötet zu werden. Wirklich tragisch. Odin bettete Baldrs Leib auf dem Schiff Ringhorn zur Ruhe und setzte es in Flammen. Baldrs Gattin Nanna soll sich in ihrem Kummer in die Flammen gestürzt haben, um ihm in den Tod zu folgen.«
Er nahm einen weiteren Schluck. »Aber das war nur der Anfang, denn Baldrs Geist stürzte nach Hel, ins Reich der Toten, wo selbst der große Odin nicht gebieten darf. Zwar hatten Odin und Frigga Hermod, einen weiteren ihrer Söhne, dorthin gesandt, um durch ein Lösegeld Baldrs Freilassung zu erwirken, aber meine Mutter Hel wollte seinen Geist nicht hergeben. Nur sehr wenige wissen, dass Hel mit Odin gespielt hat, um ihn abzulenken, während Loki versuchte, Baldr ein Geständnis zu entlocken. Er sagte Baldr, dass er künftig Hels Sklave sei, gefangen bis zum Tage Ragnarök, wenn er seine Pläne nicht gestand. Doch diesmal überraschte Baldr sie, denn er lehnte den Handel ab und entschied sich dafür, als Hels Gefangener lieber ein Zeitalter unter den Toten zu verbringen, als die Täuschung offenzulegen. Und so bin ich ihm zum ersten Mal begegnet, als er ein Gefangener in Hel war. Als Kind fand ich ihn hochinteressant, diesen wunderschönen Gott, der mit seiner toten Frau in seiner Kammer saß. Er sah so hoffnungslos aus, beinahe wie aus Stein. Tagelang stand er da, ohne sich zu regen, und starrte in die bodenlosen Tiefen, lauschte den Gesängen der Toten und wartete auf das Ende der Götter, auf den Tag Ragnarök, der ihm die Freiheit verhieß. Ich fragte meine Mutter: ›Wie kann jemand, der zu solchen Opfern bereit ist, um seine Geheimnisse zu wahren, von niederem Charakter sein?‹ Sie lachte und sagte, ich dürfe Stolz nicht mit Edelmut verwechseln. Dann warnte sie mich davor, Mitleid mit ihm zu haben. Aber ich war der Meinung, dass dieses Geschöpf genug gelitten hatte. Selbst damals, in jungen Jahren, erkannte ich, dass Lokis Hass und Neid auf Odin die eigentliche Ursache für Baldrs Schicksal waren. Deshalb hatte ich Mitleid mit ihm, und das, mein Freund, sollte mein Verderben sein. Denn ich hatte eine bittere Lektion vor mir, die da lautete: Eine Schlange ist und bleibt eine Schlange, ganz egal, als was sie sich tarnt. Damals konnte ich nicht wissen, dass der Tag kommen würde, an dem ich nicht einmal mehr seinen Namen aussprechen kann, dass ich hundert- und tausendfach von seinem Blut an meinen Händen träumen würde.«
Krampus wollte den Rest der Geschichte erzählen. Doch als er zu Jesse blickte, stellte er fest, dass der Musiker eingeschlafen war. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, öffnete den Sack und spähte in dessen neblige Tiefen. »Zusammen finden wir Lokis Pfeil. Zusammen werden wir Baldr töten, welche Maske er auch tragen mag.«
Kapitel 7
Ungezogene Kinder
S chritte, schwere, stampfende Schritte, die die Treppe heraufkamen. Jesse war mit einem Mal wieder in seinem Kinderzimmer. Er war sechs, vielleicht auch sieben, und es war Weihnachten. Das Treppengeländer war üppig mit Lametta und blinkenden, funkelnden Weihnachtslichtern behängt. Ein großer Schatten verdeckte die Lämpchen auf dem Weg nach oben. »Hohoho«, grollte eine Stimme, aus der Urteil und Strafe klangen. »Warst du etwa ungezogen, Jesse? Hm? Warst du ungezogen?« Jesse fing an zu zittern und zog sich die Decke bis ans Kinn. Der Weihnachtsmann schob die Tür auf. Seine stämmige Gestalt war so massig, dass er kaum hindurchpasste. Mit einem großen blutroten Sack über der Schulter kam er an Jesses Bett. Bedrohlich ragte er vor Jesse auf, den Blick der winzigen schwarzen Augen auf den Jungen gerichtet, als wollte er seine Seele auf die Probe stellen.
Der Weihnachtsmann ließ den Sack von der Schulter aufs Bett gleiten. Im Innern bewegte sich etwas – es sah aus, als wäre er voller junger Hunde oder Katzen. Jesse hörte Laute, die wie gedämpftes Blöken und Schreien klangen, aber er wusste, dass das nicht stimmen konnte, nicht beim Sack des Weihnachtsmanns. Traurig schüttelte dieser den Kopf. »Du
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