Krank (German Edition)
dafür ist Powers verantwortlich«, sagte ich. Langsam setzten sich die Puzzleteilchen zu einem Bild zusammen. »Sie suchte verhaltensauffällige Jungs mit dysfunktionalem Elternhaus, die eher einzelgängerisch veranlagt waren, erzählte den Erziehungsberechtigten von ihrer Schule und versprach, die Kinder auf Kurs zu bringen oder so etwas in der Art. Dazu musste sie nur ein paar Unterlagen ausfüllen, und schon kriegte sie ihre Zulassung. Sie war eine … wie hast du das gleich noch genannt?«
»Aushilfslehrerin. Um als Vertretung zu arbeiten, brauchte sie kein Lehramtsstudium zu absolvieren. Und falls man sie unter die Lupe genommen hat, musste sie nur auf ihre Berufserfahrung verweisen. Zudem kannte sie den ganzen Fachjargon, was die zuständige Stelle bestimmt beruhigt hat.«
»Und sie konnte ihre gottesfürchtige Seite herauskehren.«
»Ja, Miss Powers hat an alles gedacht«, stöhnte Cherry. »Und die Eltern haben dieser Frau einfach ihre Kinder überlassen.«
»Wahrscheinlich freute es sie sogar, ihre Zöglinge loszuwerden. Dass sie Billy oder Bobby Leuten überließen, die die Bibel in- und auswendig kannten, machte ihnen die Entscheidung leicht.«
»Ich gehe davon aus, dass die Sache mit der Schule auf Tanners Konto geht«, meinte Cherry. »Der gottesfürchtige Lehrer und Mann der Kirche. Vielleicht war es ihm am Anfang sogar ernst damit. Und dann floss das Geld in Strömen, und er hing an der Angel. Ich könnte wetten, dass er sich etwas vorgemacht hat und sich einredete, mit dem Gewinn aus dem Wettgeschäft das großartige Gotteshaus zu bauen, von dem er träumte.«
Als wir den Stacheldraht erreichten, sagte Cherry: »Ungefähr vor achtzehn Jahren hatte Zeke auf einmal die Nase gestrichen voll von der altbackenen Religion und dem ganzen Rette-dich-vor-dem-Teufel-Getue.«
»Ein Mann Gottes kann doch nicht so ohne Weiteres freien Sex, Wettgeschäfte und Gewalt gegen Kinder gutheißen. Laut seiner Interpretation hatte der Teufel von ihm Besitz ergriffen, und indem er den Teufel anprangerte, konnte er sich einreden, er handle in Gottes Namen. Sind Symbol und Metapher identisch, kann er nicht für seine niederen Instinkte belangt werden. Und wenn er nicht im Unrecht ist, kann er sich jeden noch so trivialen Wunsch erfüllen.«
Cherry schüttelte den Kopf und drückte den Zaun nach unten, damit ich darübersteigen konnte. »Diese Art von Religion ist der pure Wahnsinn. Was ist mit Burton?«
»Burton brauchte seine Symbole nicht umzudeuten, damit sie seine Bedürfnisse rechtfertigten. Er war frei von Moral und nahm sich, was er wollte, ohne deswegen ein schlechtes Gewissen zu bekommen.«
»Er war auch Boxer, Ryder«, erinnerte Cherry mich.
Ich nickte bedächtig und dachte daran, wie Hawkes im Besucherraum Luftschläge und -tritte ausgeteilt hatte. Dass er die Bewegungen selbst nach vielen Jahren noch so selbstverständlich und fließend ausführte, deutete auf harten Drill hin.
»Die Jungs brauchten einen Trainer«, schlussfolgerte ich. »Nur wer gewinnt, macht Geld, und um zu gewinnen, musst du wissen, was du tust.«
»Wir dürfen diesen Colonel nicht vergessen, der ebenfalls zu dieser Horrortruppe gehörte, Ryder. Nach dem, was Hawkes über ihn verlauten ließ, war der Colonel der Platzhirsch, um es mal so zu formulieren.«
Wir kamen zum Tor, schauten uns noch einmal um und sahen nur Bäume und Wiesen. Vögel, die von Baum zu Baum flogen. Schmetterlinge, die Gerbersträucher umflatterten. Insekten, die durch die warme Luft schwirrten.
»Um so etwas durchzuziehen, braucht es einen Anführer«, pflichtete ich Cherry bei und kratzte mit dem Fingernagel Rost von einem Zaunstachel. »Und jemanden, der die Sache zu Anfang finanziert. Das Gelände hier musste ja gekauft, das Haus und die Scheunen gebaut werden. Und der Zaun, die Zuschauerränge und die Kampfringe kriegt man auch nicht umsonst.«
Cherry rümpfte die Nase. »Lass uns endlich von hier verschwinden. Der Gestank bringt mich noch um.«
Eine halbe Meile trennte uns von den Zwingern, in denen die Hunde gehaust hatten. Cherry bildete sich den Gestank nur ein.
Ehe ich mich versah, hatte auch ich den Eindruck, etwas zu riechen.
Und dass uns jemand beobachtete. Ich verspürte ein leises Kribbeln, als würde mir jemand eine Zielscheibe auf den Rücken malen. Unbewusst ging ich schneller und sah immer wieder zu dem Bergkamm hoch, der neben uns aufragte. Obwohl dort niemand war, legte sich das Gefühl, dass wir observiert wurden, nicht einmal
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