Krank (German Edition)
dann, als wir in den Wagen gestiegen waren und wegfuhren.
Kapitel 49
»Ich rufe beim Finanzamt an und frage, wem das Grundstück gehört«, verkündete Cherry, die mit einer Hand lenkte und mit der anderen eine Nummer wählte. »Der Besitzer muss Steuern bezahlen, und das Letzte, was der Staat verbummelt, sind Steuererklärungen.«
Während Cherry sich gleichzeitig durch bürokratische Strukturen und die Wildnis kämpfte, beschäftigte ich mich mit der von Hawkes’ angefertigten Karte, einem weiteren Fragment dieses bizarren Falls. Jimmie Hawkes hatte inmitten von stinkenden Hundezwingern gehaust, gegen wildfremde Jungs gekämpft, von Maden durchsetzte Mahlzeiten gegessen. Sein Geist glich einem Bewusstseinsstrom, der den Horror seiner Jugend wiedergab.
War er schon neben der Spur gewesen, als er in das Camp kam? Hatte er dort den Verstand verloren? Oder erst in den Jahren danach, in denen er sich als Verbrecher durchschlug?
Vor dem Hintergrund, dass er als Kind von einem Verwandten zum nächsten abgeschoben wurde und die meiste Zeit wie ein Hund im Freien lebte, kam ich zu der Überzeugung, dass Jimmie Hawkes von Kindesbeinen an unter psychischen Störungen gelitten hatte.
Ich betrachtete seine kindlichen Symbole: Eine Wellenlinie stellte einen Bach dar, schraffierte Quadrate ein umgepflügtes Feld und Lutscher Bäume. Alles sehr schlicht.
Ich legte die Karte auf den Schoß und ging im Geist noch einmal unsere Begegnung im Gefängnis durch: Ein Mann mit nur einem halben Gesicht tänzelte durch den Raum, verteilte Schläge und Tritte auf Kopfhöhe.
Ich entsann mich, wie Hawkes die Hand schützend auf seine Weichteile legte. » HEFTET EINE NUMMER AN EUREN SCHWANZ, JUNGS! LEGT DEN HODENSCHUTZ AN UND DECKT DEN WELPEN !«
Ein Suspensorium – laut Mickey Prince das Einzige, was die Jungs getragen hatten. Eine gepolsterte Plastikschale mit Haltebändern zum Schutz von Penis und Hoden. Ich stellte mir die dünnen Jungs darin vor und malte mir aus, wie Crayline mit nichts als einem schmalen Schutz bekleidet vor seinen Aufseher trat. Ich schnappte mir einen Bleistift, machte ein paar Skizzen und spürte, wie mein Herz für einen Schlag aussetzte.
»Du musst im LaGrange anrufen und fragen, ob es dort eine Möglichkeit gibt, Videos abzuspielen. Ich muss Jimmie Hawkes etwas zeigen.«
»Was?«
»Es ist zu eigenartig, ich muss es Hawkes vorspielen.«
Eine Viertelstunde später setzte ich mich in ihrem Büro an den Computer, der mit einer Kamera für Videokonferenzen ausgerüstet war. Während ich mich damit vertraut machte, erkundigte Cherry sich, wie man in LaGrange ausgestattet war.
»Wie sieht es aus?«, fragte ich sie.
Sie legte die Hand auf die Sprechmuschel. »Es gibt einen sicheren Raum mit Kamera und Abspielgerät, wo eidesstattliche Erklärungen aufgezeichnet werden. Hawkes ist schon auf dem Weg dorthin.«
Ich zog einen schwarzen Filzstift aus der Tasche, nahm ein Blatt Papier aus dem Druckerfach und fertigte eine einfache Skizze an. Cherry trat neben mich und tippte auf ihre Armbanduhr.
»In einer Minute geht’s los.«
Wir setzten uns vor die Webcam. Auf dem Monitor tauchte Jimmie Hawkes auf. Durch das billige Objektiv, das die beiden unterschiedlichen Hälften noch stärker akzentuierte, sah sein Gesicht wie eine bizarre Maske aus. Jedes Mal, wenn er sich bewegte, huschten dunkle Schatten darüber, bis man das Gefühl hatte, es würde pulsieren.
Hinter Hawkes erkannte ich eine gelbgestrichene Wand und den Arm eines Aufsehers, der offenbar hinter ihm stand. Hawkes lächelte schief und neigte sich so stark zur Kamera vor, dass er den Monitor komplett ausfüllte.
»Hallo? Jemand da?«
»Ja, wir sind da, Jimmie. Detective Cherry und Detective Ryder. Werfen Sie mal einen Blick auf Ihren Monitor.«
Als Hawkes den Kopf Richtung Bildschirm drehte, präsentierte er uns eine Großaufnahme seiner deformierten Gesichtshälfte.
»Grundgütiger, wieso haben sie die Kamera nicht auf der anderen Seite installiert?«, seufzte Cherry.
»Schhhh«, warnte ich sie. Manchmal reagierten solche Mikros überraschend empfindlich.
»Ich dachte, Sie mögen gerade diese Seite, Miss Cherry«, kicherte Hawkes, streckte die Zunge heraus und kam mit seinem Gesicht so nah an die Kamera heran, dass auf dem Bildschirm nur noch ein dunkler Schatten zu sehen war. Dann wich er unvermittelt zurück. Auf seiner Schulter lag die große schwarze Hand des Aufsehers, der ihn zurück zum Stuhl schob.
Stumm dankte ich dem Wärter und
Weitere Kostenlose Bücher