Krank (German Edition)
vollführte.
Mein Bruder, der einen Großteil seiner Zeit in den dunklen Abgründen seiner Seele verbrachte, hatte ein Faible für solche Räume. Die anheimelnden, farbenfrohen Möbel unten fungierten nur als Bühnenbild für potentielle Besucher. Jeremy trat an den Schreibtisch und drückte auf eine Taste, mit der er den Bildschirmschoner ausschaltete. Nun konnte ich auf den Monitoren Tabellen, Diagramme, Tickersymbole und Kurse erkennen.
»Du betätigst dich auf dem Aktienmarkt?«, staunte ich.
Jeremy grinste. Im Licht der Monitore wirkten seine Augen eiskalt. »Der Aktienmarkt kennt nur zwei Befindlichkeiten: die eines verängstigten Kindes oder die des polternden Trunkenboldes. Ich spüre, wer gerade die Oberhand hat und setzte mein Geld dementsprechend ein. Gestern hat der polternde Trunkenbold den Markt eröffnet, und ich habe für vier Dollar pro Anteil Aktien eines Unternehmens aus dem Health Care Sektor gekauft. Kurz vor Mittag habe ich sie für sechseinhalb Dollar wieder verkauft. Um eins kam das verängstigte Kind zum Zuge, und der Aktienkurs des Unternehmens, das ich kurzzeitig besessen hatte, fiel innerhalb einer halben Stunde auf dreieinhalb Dollar. Dann habe ich Teile eines anderen Aktienpaketes verkauft, das prompt ein Drittel seines Wertes verlor. Gestern habe ich nur auf ein paar Tasten gedrückt und über viertausend Dollar verdient. Tja, wie du siehst, bin ich unter die Kapitalisten gegangen.«
»Wieso hast du dir ausgerechnet den Namen Charpentier zugelegt?«
»Als ich eine neue Identität brauchte, stieß ich auf ein Kind, das 1963 in Moose Head gestorben ist. Da brauchte ich nur noch ein paar echt wirkende Urkunden, und mit entsprechenden Kontakten zur Unterwelt ließen die sich leicht beschaffen.«
»Wenn ich dich recht verstehe, hast du angefangen, mit Aktien zu handeln, bevor du deine Zelte hier aufgeschlagen hast. Auf diese Weise bist du an die Kohle für diese Immobilie gelangt?«
Jeremy grinste und tat so, als hätte er meine Frage nicht gehört. Statt zu antworten, legte er mir die Hand auf die Schulter und drückte so fest zu, dass es schmerzte.
»Komm, Brüderchen, trinken wir etwas und stoßen auf unser freudiges Wiedersehen an.«
*
Wir begaben uns nach unten, setzten uns ins Wohnzimmer und tranken Jeremys Eistee. Obwohl er sich große Mühe gab, als gutaussehender und distinguierter Professor Ende vierzig durchzugehen, waren sein Blick, sein Verhalten und seine Stimme unverkennbar Jeremy. Mir kam es vor, als bräuchte man nur kurz seine Schädeldecke anzuheben, damit der Professor sich in Luft auflöste und mein zweiundvierzigjähriger, Ränke schmiedender Bruder zum Vorschein kam.
»So, wie ich das sehe, Jeremy«, meinte ich, »hast du mich verscheißert, um mich hierherzulocken.«
Wie ein Mann, der kein Wässerchen trüben kann, schlug er eins von seinen langen Beinen über das andere. »Bei unserem letzten Gespräch hast du mit dem Gedanken gespielt, Urlaub zu machen, warst dir aber noch nicht sicher, wohin es gehen sollte. Da bin ich zu der Dame gegangen, die die Hütten vermietet, und habe ihr ein bisschen Geld gegeben, damit sie dir vorgaukelt, du hättest den Aufenthalt hier gewonnen. Dottie hat sich köstlich amüsiert. Sie sagte: Er wird mir doch nicht abkaufen, dass ich seine Anmeldung von damals neun Jahre lang aufbewahre, oder? Woraufhin ich sagte: Meine Teure, dieser Mann glaubt noch an die Liebe .«
»Du hast Donna Cherrys Stimme nachgeäfft und mich zum Tatort gelotst.«
»Ich hatte zufällig den Polizeifunk eingestellt und hörte, wie sie über einen Leichnam quasselten, wo man ihn gefunden hatte und so weiter und so fort. Die Gesetzeshüter wirkten ziemlich durcheinander, und da dachte ich mir, du solltest den hiesigen Bullen ein bisschen zur Hand gehen.«
»Wieso?«
Er sah mich an, als wäre ich begriffsstutzig. »Fallen Leichen nicht in dein Metier?«
»Ich war als Erster am Tatort und hätte umgebracht werden können.«
»Musst du immer so übertreiben? Wie fandest du meine Imitation von Miss Cherry? Ich habe mich an einer Mischung aus Scarlett O’Hara und einer läufigen Katze versucht. Ist die Lady ansprechender als ihre Stimme?«
»Ja«, räumte ich seufzend ein. Wenn ich mit meinem Bruder redete, kam es mir immer so vor, als wäre ich auf einer Party und unterhielte mich gleichzeitig mit mehreren Personen.
»Das hätte ich mir denken können. Fickst du sie schon?«
»Was?«
»Wenn sie hübsch ist, startest du unter aller Garantie eine
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