Krank (German Edition)
»Kommen Sie von weit her?«
Ich wollte etwas sagen, brachte jedoch nur ein Stammeln heraus.
»Tut mir leid, Sir«, meinte Charpentier. »Ich habe Sie nicht verstanden.«
»Unser Gast stammt aus Mobile, Alabama«, erklärte McCoy. »Er ist Kriminalbeamter und beschäftigt sich für seine Arbeit hin und wieder mit Psychologie. Wir hätten da etwas, über das wir mit Ihnen sprechen möchten. Es gab einige Zwischenfälle in der Gegend. Vielleicht können Sie uns mit Ihrem Fachwissen weiterhelfen.«
»Sieh einer an … Da ich mich neuerdings ja nur noch sporadisch nützlich machen kann, wäre es mir eine Ehre, Ihnen zu helfen, Detective, ähm … entschuldigen Sie.« Er zupfte an den Ohrstöpseln herum, die auf seiner Hemdbrust lagen. »Ich höre immer viel zu laut Musik, und da dauert es einen Moment, bis sich meine Ohren davon erholen. Sie sagten, Ihr Name sei Carton? Wie dieser Sydney Carton aus Dickens’ Roman Eine Geschichte von zwei Brüdern ?«
»Carson«, korrigierte McCoy ihn. »Er heißt Carson Ryder. Und lautet der Titel des Roman nicht Eine Geschichte aus zwei Städten, Doktor?«
Jeremy klatschte in die Hände. »Aber sicher. Mein Unterbewusstsein muss den Titel mit den zwei Charakteren aus der Geschichte verwechselt haben. Sie heißen Charles Darnay und Sydney Carlton und standen sich so nah wie Brüder.« Jeremy beobachtete mich amüsiert. »Mr. Ryder, mir ist völlig entfallen, welcher Mann sich für den anderen geopfert hat.«
»Ich kann mich auch nicht entsinnen«, antwortete ich und bemühte mich um einen gelassenen Tonfall.
Mein Bruder reckte das Kinn wie ein billiger Schmierenkomödiant. » Das, was ich jetzt tue, ist wesentlich besser …« Er musterte mich. »Oder so ähnlich. Nun, Mister Carson Ryder, aus welchen Grund brauchen Sie bei Ihrer Tätigkeit die Psychologie?«
»Ich bin bei der Mordkommission und gehöre einer Sondereinheit an, die Sozio- und Psychopathen aufspürt.«
»Na, wenn das kein Zufall ist. Auf diesem Gebiet habe auch ich einiges an Erfahrung gesammelt«, sagte mein Bruder und schaute so unschuldig aus der Wäsche wie ein frischgeborenes Lämmchen.
*
Zehn Minuten später standen Jeremy und ich nebeneinander auf der Veranda des fiktiven kanadischen Psychologen und schauten dem davonfahrenden McCoy hinterher. Nach einem Glas Eistee hatte sich der Ranger unter dem Vorwand, noch zu tun zu haben, verabschiedet. Jeremy winkte und rief adieu !
Als ich hörte, wie sich McCoys Geländewagen den steilen Schotterweg Richtung Bergkamm hochkämpfte, baute ich mich vor Jeremy auf und forderte eine Erklärung.
Kapitel 12
Ich folgte Jeremy nach drinnen. Sein Wohnzimmer war riesig. Ein Ende des Raumes wurde von einem gemauerten Kamin dominiert, das andere von Bücherregalen. Fenster reichten von den Regalen bis zum Scheitelpunkt der gewölbten Decke. Die eingelassenen Holzwände schimmerten matt. Im Vergleich zur Hütte wirkte das Mobiliar eher zierlich. Auf einem ovalen Webteppich waren zwei Sofas und ein Stuhl um einen Wohnzimmertisch gruppiert. In der Ecke stand eine Bogenlampe aus Chrom, deren Schirm über dem Tisch schwebte. Ganz hinten entdeckte ich eine gut ausgestattete Küche mit einer handgearbeiteten Kupfertheke, über der Töpfe und Pfannen hingen.
Während die Hütte von außen rustikal wirkte, erinnerte innen alles an ein Loft in Manhattan. Dort hatte mein Bruder vor einiger Zeit einen unter Wahnvorstellungen leidenden Paranoiker überredet, seinen Schwager zu bestehlen. Mit der erbeuteten Summe, ein kleinerer fünfstelliger Betrag, hätte Jeremy seine Flucht und den einen oder anderen Unterschlupf finanzieren können, aber gewiss nicht diese Immobilie.
»Das hier muss ja ein Vermögen gekostet haben, Jeremy«, rutschte es mir heraus. »Woher hast du die Kohle?«
Mit undurchschaubarer Miene drehte sich Jeremy zu mir um. »Ich bin jetzt ein ehrbarer Kaufmann und tummle mich in einem bescheidenen Gewerbe.«
Er führte mich nach oben in einen spärlich möblierten Raum, der große Ähnlichkeit mit einer Mönchszelle hatte. An so einem Ort konnte man sich auf eine Aufgabe konzentrieren, die keine Ablenkung erlaubte. Die Jalousien waren heruntergelassen. Das einzige Licht kam von vier Computermonitoren auf einem langen Schreibtisch, auf dem eine einzige Tastatur lag. Vor dem Ensemble stand ein ergonomisch geformter Stuhl. Auf allen vier Monitoren lief derselbe Bildschirmschoner: eine weiße Linie, die vor dunklem Hintergrund erratische Zickzackbewegungen
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