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Krank (German Edition)

Krank (German Edition)

Titel: Krank (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerley
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den Achseln. »Vielleicht hat er ja in einer Klinik gearbeitet, in der es um Raucherentwöhnung und Phobien geht oder in der autistische Kinder behandelt werden. In der Psychologie treiben sich Unmengen von Spezialisten herum, von denen die wenigsten mit menschlichen Monstern arbeiten.«
    »Aber vertun wir nicht vielleicht eine Chance, wenn wir ihn nicht fragen, Carson?«
    Da ich dem Ranger in diesem Punkt zustimmen musste, sprang ich in seinen Geländewagen. Die Fahrt zu Charpentiers Hütte dauerte genau dreißig Sekunden. Der Mann stand gebückt und mit dem Rücken zu uns im Garten und zupfte Unkraut heraus, das neben einem Tomatenstrauch wucherte. Er war schmalhüftig, und die Hosenträger betonten seine breiten Schultern, die mir bei unserer Beinah-Begegnung im Wald gar nicht aufgefallen waren.
    »Sieht aus, als wäre er in guter körperlicher Verfassung«, merkte ich an.
    »Als Dr. Charpentier gegen Ende des Winters hier auftauchte, hat er einen Morgen Bäume gefällt und kleingehackt. Und er hat sich eins von diesen Geräten ausgeliehen, mit denen man die Stümpfe und Wurzeln entfernt. Da der Lehmboden hier nicht viel hergibt, ließ er sich für seinen Garten mehrere Wagenladungen Muttererde anliefern. Er scheint ein begnadeter Gärtner zu sein, ein Mann mit einem grünen Daumen. Wenn er nicht auf seinem Grund und Boden oder im Garten zugange ist, erkundet er die Wälder und lernt Flora und Fauna kennen.«
    »Die Hütte ist aber nicht erst jüngeren Datums.«
    »Nein. Die haben die Brazelles, pensionierte Augenärzte aus Dayton, Ohio, vor zehn Jahren gebaut. Wunderbare Menschen, aber Theo, Mr. Brazelle, kriegte irgendwann Alzheimer, und da wurde das Leben in den Wäldern für ihn zu gefährlich. Traurige Sache. Grundstück und Hütte waren noch keinen Monat auf dem Markt, als Dr. Charpentier es kaufte. Das ganze riesige Areal hinter der Hütte gehört ihm auch noch. Alles im allen besitzt er dreißig Morgen.«
    »Wohnt Charpentier hier das ganze Jahr über?«
    »Hin und wieder ist er auf Reisen. Ich glaube, er schreibt ein Buch. Normalerweise bleibt er lieber für sich, aber manchmal ist er überraschend gesellig. Ich habe mal zufällig mitgekriegt, wie er vor dem Besucherzentrum des Parks mit Philosophieprofessoren der Western Kentucky University, die hier auf Urlaub waren, über Plato diskutiert hat. Und am nächsten Nachmittag hat er mit den Jungs, die seine Sickergrube ausgepumpt haben, Bier getrunken und geschwatzt.«
    Während wir auf ihn zuhielten, rief McCoy: »Dr. Charpentier? Hallo … Doktor?«
    Charpentier, der uns anscheinend nicht bemerkte, zupfte weiter Unkraut. »Er hat Ohrstöpsel drin«, meinte ich, als mir die weißen Kabel auffielen. »Gehören vermutlich zu einem iPod.«
    Charpentier wandte uns immer noch den Rücken zu und arbeitete beseelt vor sich hin. Ein Stück weiter hinten wuchsen auf einer mit Maschendrahtzaun abgeriegelten Parzelle Tomaten, Kohlköpfe und kleine Melonen, die wie grüne Kanonenkugeln zwischen den großen Blättern hervorblitzten. Seitlich standen ein paar Verschläge für Hühner oder vielleicht Hasen, und noch weiter hinten hingen weiße Kästen in den Baumkronen. Offensichtlich genoss Charpentier es, sich selbst zu versorgen.
    Als wir nur noch ein paar Schritte von dem kanadischen Psychologen entfernt waren, rief McCoy erneut nach ihm. »Doktor? Doktor Charpentier?«
    Charpentier machte eine halbe Drehung und nahm endlich Notiz von uns. Er trug einen weißen Schlapphut und hatte ein rotes Halstuch um seinen Kopf gebunden, das als Schweißband fungierte. Bei unserem Anblick erhellte sich seine Miene. Er wandte sich ab, lehnte die Harke gegen eine Schubkarre und zog die Ohrstöpsel heraus.
    »Doktor, ich möchte Ihnen einer Ihrer temporären Nachbarn vorstellen, der sich in Road’s End einquartiert hat«, sagte McCoy.
    Kaum hatte Charpentier sich zu uns umgedreht und Halstuch und Sonnenbrille abgelegt, kriegte ich weiche Knie, und ein durchdringendes Pfeifen schrillte plötzlich in meinen Ohren.
    Charpentier war mein Bruder, Jeremy Ridgecliff, der vor zwei Jahren aus dem Alabama Institute for Aberrational Behavior verschwunden und seither auf der Flucht war.
    Jeremy packte meine linke Hand mit seiner rechten, schob seine linke unter meinen Ellbogen und stützte mich. Seine Handflächen waren hart und knochentrocken, seine Augen funkelten hocherfreut.
    »Ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Mr. Ryder«, begrüßte er mich mit leicht französischem Akzent.

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