Krank (German Edition)
hier«, meinte ich und zeigte auf den Bogen, »ist eine Schwarzkehl-Nachtschwalbe, nicht wahr?«
Cherry warf mir einen verdutzten Blick zu, während Miss Bascomb ihren Kopf leicht neigte und mich durch ihre dicken Brillengläser musterte, ehe sie auf mich zukam und meine Hand in ihre nahm. Sie fühlte sich an wie Treibholz.
»Sie sind der erste Mensch, der eins von meinen Bildern richtig sieht«, lobte sie, schritt mit mir wie bei einer Vernissage die Wände ab und deutete auf Braunrücken-Grundammer, Stare, Rotkehlchen, Krähen (eine nervöse Komposition aus Schwarz und Gelb), Hausschwalben, Drosseln, Finken, Hüttensänger, Kardinäle, Schlammtreter, Schwarzhalstaucher, Regenpfeifer und viele mehr. Nach der Führung lud uns eine strahlende Leona Bascomb zu Tee und Keksen ein.
»Wie haben Sie das nur angestellt, Ryder?«, flüsterte Cherry, als die Vogelmalerin in ihrer Küche verschwand und mit dem Geschirr klapperte. »Woher wussten Sie, dass diese Farbkleckse eine Schwarzkehl-Nachtschwalbe darstellen?«
»Weil es einfach nichts anderes sein konnte.«
Als Miss Bascomb sich wieder zu uns gesellte, begann Cherry, ihr Fragen zu stellen. Ich trank meinen Tee, knabberte an einem Keks und freute mich, nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses zu stehen.
»An dem Morgen, an dem der Leichnam der armen Frau gefunden wurde, war ich nicht hier«, berichtete Miss Bascomb. »Der Mitarbeiter vom staatlichen Gesundheitsdienst ist schon sehr früh gekommen und hat mich zur halbjährlichen Kontrolluntersuchung ins Hospital gebracht. Ich bin gesund, Gott sei Dank.«
»Sie haben erwähnt, Sie hätten in der Nacht zuvor ein Auto gehört?«
»Das muss kurz vor Mitternacht gewesen sein. Ich war noch auf und habe herumgewerkelt. Ich kann nicht mehr richtig schlafen, nur noch dösen. Jedenfalls habe ich ein Auto gehört. Dem Motorengeräusch nach muss es groß gewesen sein. Da kenne ich mich aus. Ich sehe fast nichts mehr, doch dafür hat mir der Herrgott ein hervorragendes Gehör geschenkt.«
»Kommt es häufiger vor, dass auf dieser Straße nachts Autos unterwegs sind?«, wollte Cherry wissen.
»Nein, eigentlich nicht. Weiter hinten gibt es nur das alte Holzfällerlager. Im Sommer kommen tagsüber manchmal die Kinder zum Schwimmen, doch die meisten gehen zum Red River. Da gibt es einen hohen Felsen, von dem man springen kann, und das Wasser ist viel tiefer. Außerdem sind dort mehr Kinder, so dass man besser mit seinen Sprüngen angeben kann. Früher, als kleines Mädchen, bin ich auch immer dorthin gegangen.«
»Aber in dieser Nacht haben Sie ein Auto gehört?«, hakte Cherry nach.
»Ja. Und ich habe darauf gewartet, dass es wieder auftaucht. Zwei Stunden später war es so weit.«
»Dasselbe Fahrzeug?«
»Hundertprozentig lässt sich das nicht sagen, aber dem Geräusch nach zu urteilen, glaube ich das schon.«
Cherry machte sich ein paar Notizen. »Also, ein Fahrzeug kam gegen Mitternacht hier vorbei und noch eines gegen zwei Uhr. Aber es könnte durchaus sein, dass es ein- und derselbe Wagen war.«
Die alte Dame nickte.
Cherry warf mir einen Blick zu. Miss Bascombs Aussage passte zu dem Todeszeitpunkt, den uns das Labor genannt hatte. Tandee Powers war vermutlich gegen elf Uhr bei sich daheim aufgegriffen, an Leona Bascombs Haus vorbeigefahren und zum Bach hinuntergebracht worden. Dort hatte man ihr das anzügliche Outfit angezogen, sie ins Wasser geworfen und gefoltert, in dem man sie mehrmals unter die Wasseroberfläche zog und sie anschließend wieder auftauchen ließ. Ihr Martyrium könnte insgesamt 90 Minuten, wenn nicht gar länger gedauert haben.
»Und hinterher haben Sie kein weiteres Fahrzeug mehr gehört?«, fragte Cherry.
Stirnrunzelnd durchforstete die alte Lady ihr Gedächtnis. »Gegen vier Uhr in der Früh bin ich weggedöst. Kurz vor sechs hat mich etwas aufgeweckt, ein Wagen, da bin ich mir ziemlich sicher, aber ich war noch nicht ganz bei Sinnen. Mir kam es vor, als würde da jemand von Westen nach Osten fahren.«
Cherry blickte mich an und schüttelte den Kopf. Das hat nichts mit diesem Fall zu tun . Da die Sonne um sechs Uhr aufging, passte die Information auch nicht zu unserer eigenen Zeitachse. Das Fahrzeug, das gegen Mitternacht an Miss Bascombs Haus vorbeigefahren war, hatte hingegen Tandee Powers befördert.
Wir erhoben und verabschiedeten uns. Miss Bascomb, die uns abermals Tee und Kekse anbot und schließlich zum Abendessen einlud, war von dem Gedanken, dass ich ging, anscheinend gar
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