Krank (German Edition)
Kletterroute gefunden. Jemand hatte Löcher gebohrt, Haken, Steigklemmen und Karabiner zur Sicherung des Seils angebracht.
Ich hatte kein Seil. Keinen Klettergurt. Und keine Kreide, um meinen schweißnassen Fingern Halt zu geben. Aber ich war auf eine vorbereitete Route gestoßen. Als die Wolke weiterzog, funkelten die Haken über mir im Mondlicht. Ich bemühte mich, mich an all das zu erinnern, was Gary mir beigebracht hatte – an jede Bewegung, jede Technik.
Die Dunkelheit kehrte zurück. Ein paar Sekunden lang baumelte ich einhändig am Karabiner, bis meine Füße Halt fanden. In dem Wissen um die vorhandenen Haken fuhr ich mit ausgestreckten Händen vorsichtig über den Felsen. Kaum hatte ich einen ertastet, zog ich mich stöhnend daran hoch und schaffte es innerhalb weniger Sekunden, zwei Höhenmeter zu überwinden.
Bis zum Hueco waren es nur noch ein, zwei Meter. Es krachte, und Zentimeter neben mir splitterte der Fels. Crayline hatte mich entdeckt! Ich unterdrückte einen Schrei, kraxelte zur Höhle hoch und wartete auf den nächsten Schuss.
Sekunden später rollte ich mich in das Felsloch hinein. Unten fluchte Crayline. Erneut hörte ich dieses Geräusch von reißendem Klebestreifen, und mir ging auf, dass Crayline einen selbstgebastelten Schalldämpfer benutzte: eine leere Plastikflasche, die er über den Lauf gestülpt und mit Klebeband fixiert hatte. Offenbar brauchte er für jeden Schuss eine neue Flasche.
Crayline wusste, dass ein normaler Schuss noch viele Meilen weiter zu hören wäre, während ein gedämpfter eher wie alter Ast klang, der abbrach. Vermutlich trug er einen Rucksack voller leerer Flaschen mit sich herum.
Der nächste Schuss fiel. Crayline hatte gut gezielt: Die Kugel prallte von der Höhlendecke ab und schlug acht Zentimeter neben meinem Knie in die Erde. Ich kroch ans Ende der Höhle, zog den Kopf ein und schlang die Arme um die Beine. » HILFE !«, brüllte ich in der Hoffnung, dass die Höhle meine Stimme wie ein riesiges Megaphon verstärkte. » HILFE! RUFEN SIE DIE POLIZEI !«
Meine Worte hallten von den Steinwänden wider. Ich hatte keine Ahnung, ob meine Stimme in der Ferne zu hören war.
» HIIIILFE !«
Ich schrie so lange weiter, bis ich sah, wie der Lichtstrahl einer Taschenlampe durch die Bäume wanderte und sich rasch entfernte. Daraus schloss ich, dass Crayline kein weiteres Risiko eingehen wollte und sich vom Acker machte. Ich wartete, bis das Licht nicht mehr zu sehen war, kroch aus der Höhle und kletterte die letzten Meter bis zum oberen Ende der Felsen hinauf. Oben angelangt, machte ich mich auf den langen Weg zu meinem Wagen.
*
Als ich meinen Pick-up eine Stunde später fand, hatte es zu regnen begonnen. Da ich barfuß gelaufen und über mehrere Steine und Wurzeln gestolpert war, schmerzten meine Füße höllisch. Ich lauschte in die Nacht, bevor ich mich dem Wagen näherte und die Tür aufschloss. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass der nächste Sendemast meilenweit entfernt war und das Gerät kein Signal fand.
Ich startete den Motor und schaltete die Scheinwerfer erst ein, als ich glaubte, mich einem Abgrund zu nähern. Ich fürchtete, dass Crayline im Wald auf der Lauer lag. Nach ein paar Meilen erreichte ich endlich die Bundesstraße. Obwohl ich mich noch immer mitten im Nirgendwo befand, fühlte ich mich mit eingeschaltetem Licht merklich sicherer und gab Gas. Der Regen wurde stärker. Ich warf einen Blick auf das Handydisplay und musste feststellen, dass ich immer noch keinen Empfang hatte. Ich schaltete die Innenbeleuchtung an und studierte die Straßenkarte. Bis zu Cherrys Blockhaus waren es etwa drei Meilen.
Ein Stück weiter vorn auf der Bundesstraße tauchten Scheinwerfer auf, die abblendeten, als ich mein Fernlicht ausschaltete. Kurz bevor wir auf gleicher Höhe waren, blitzten die Scheinwerfer des anderen hell auf und blendeten mich. Ich riss eine Hand vors Gesicht. Das Fahrzeug, ein höhergelegter Mini-Pick-up mit grün-schwarzer Camouflage-Lackierung, rauschte an mir vorbei.
Ein Jäger.
Ich warf einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie die Bremslichter aufleuchteten. Crayline. Als ich den Blick wieder nach vorn richtete, registrierte ich, dass die Straße eine scharfe Kurve machte. Ich bremste zu hart, schlitterte in einen flachen Graben und verlor die Kontrolle über das Lenkrad. Das Fahrzeug wieder in den Griff zu kriegen, kostete mich wertvolle Sekunden. Craylines Pick-up tauchte auf, rammte meine Stoßstange und stieß
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