Krank (German Edition)
zusehends monotoner, und ich konnte mich nicht des Gefühls erwehren, dass ich langsam, aber sicher in das Chaos seiner Seelenlandschaft abtauchte.
»Willst du etwa behaupten, du hättest dich mit einem Gegenstand aus Holz und Metall angefreundet?«, spottete ich.
»Ich rede von einer Macht, die der Zauberkraft vergleichbar ist, Carson, und darüber, wie man Kontrolle über seine Vergangenheit gewinnt. Zuerst habe ich die Schublade geöffnet, damit das Messer mich sehen konnte. Danach habe ich es immer wieder in mein Zimmer gebracht, bis es mir vertraut hat. Erst nachdem ich es mir untertan gemacht hatte, habe ich es in dem Deckenzwischenraum neben der Lampe versteckt, die über meinem Bett hing.«
»Jeremy, das ist doch völlig plemplem …«
» HALT DIE KLAPPE ! Jedes Mal, wenn Vater in mein Zimmer kam, hing das Messer über seinem Kopf. Ich stellte mir vor, wie blutrote Lichtstrahlen von der Klinge auf unseren allerliebsten Daddy fielen, was ganz wunderbar war. Und dann, als ich das Messer benutzte, Carson, verlieh es mir eine Macht, die selbst die von Excalibur in den Schatten stellte: Sie erlaubte mir, mich von meiner Vergangenheit zu lösen.«
Ich schüttelte den Kopf. Excalibur, Freundschaft mit einem Messer, Wahnvorstellungen, die die eigene Geschichte transformierten … Wenn ich mich mit meinem Bruder unterhielt, kam es mir hin und wieder so vor, als befände ich mich in einer Drehtür, die mich in einen Mahlstrom hineinstieß.
Ich trat ans Fenster. Die Realität meines Bruders war nicht die meine. Meine Realität war das bernsteinfarbene Sonnenlicht, das durch die Baumkronen in den Garten fiel. Meine Realität waren die rote Schubkarre, der verwitterte Schuppen, die an den Zaun gelehnte Harke, die im Vogelhäuschen sitzenden Finken, die um die Bienenstöcke kreisenden Insekten.
Die Stimme meines Bruders riss mich aus meinen Überlegungen. »Glaubst du mir etwa nicht? Du hast doch Vaters Zaubermesser gefunden, Carson. Hinter einem Backstein im Keller, richtig? Dort hat es auf dich gewartet.«
»Das war nur ein Messer, Jeremy.« Ich stieß einen Seufzer aus und wollte um keinen Preis den Blick von dem so vollkommen real wirkenden Garten abwenden. »Metall und Holz, mehr nicht.«
… versteckt hinter einem losen Stein, in ein Stück Samt gewickelt, die Klinge von dunklen Flecken übersät .
»Ach ja? Was hast du mit dem Messer angestellt, Carson?«, fragte er mich. »Was?«
»Das weißt du doch, Jeremy. Ich habe es weggeworfen.«
»Aha. Auf den Müll? Oder vielleicht auf irgendein Feld?«
»Ich habe es in den Golf geworfen, Jeremy.«
»Dann ist das Messer also im Meer gelandet«, gurrte er. »Interessant. In welchem Meer denn, Carson. Und wo genau?«
… am Kopf der Bucht von Mobile .
»Das ist nicht wichtig.«
»Komm schon, mein Brüderchen, los«, drängte er mich. »Erzähl deinem großen Bruder von dem Messer.«
»Das war keine große Sache. Ich war auf der Dauphin Island Ferry und habe es über Bord geworfen.«
… in dem Wissen, dass auf dem Meeresboden zahllose gekenterte Schiffe und dem Untergang geweihte Männer ruhten, wartete ich, bis wir die Küste nicht mehr sehen konnten .
»Sieh mal einer an. Also genau dort, wo die Schlacht von Mobile Bay stattgefunden hat. Ziemlich bedeutender Ort, um ein ganz gewöhnliches Messer zu versenken, Bruder. In den Untiefen, wo die toten Helden immer noch mit den Knochen rasseln und Tränen vergießen.«
… das Messer steckte in meinem Hosenbund und war unter dem Hemd nicht zu sehen. Mein Daumen fuhr über die Klinge, während ich den Kopf hin und her drehte, um mich zu vergewissern, dass ich nicht beobachtet wurde.
»Ja«, gab ich zu.
»Was hast du empfunden, als es vom Meer verschluckt wurde?«
… das Messer drehte sich in der Strömung ruckartig hin und her, als würde es alle Fesseln kappen. Dann spiegelte sich für einen letzten Moment das Sonnenlicht in der Klinge, ehe sie in den grünen Fluten unterging .
»Frei«, sagte ich, schloss die Augen und staunte darüber, wie spielend es Jeremy gelang, mich zu manipulieren.
Er kam herüber, stellte sich neben mich, legte den Arm um meine Schulter und drückte mich. »Die Leute, die Bobby Lee töten wollte, waren schon tot, Carson. Das war seine Krux: Er musste Menschen umbringen, die ihm – seiner Meinung nach – Böses angetan hatten, aber sie waren alle schon unter der Erde. Ich weiß wirklich nicht, auf wen er es abgesehen hatte. Das ist die Wahrheit, Bruder. Aber jeder kann nur
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