Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport
schwerer Krankheit wieder genesen und ohne Amt, sich den kritischen Fragen des ZDF -Magazins Frontal 21 stellte. Seehofer hatte über den unglaublichen Einfluss der Pharmaindustrie gesprochen. Das Magazin hakte nach: »Heißt das denn, dass die Lobby wirklich so stark war – die Pharma-Lobby gegen die Politik – und Sie quasi dann da zurückziehen mussten?« Horst Seehofer antwortete: »Ja, das ist so. Seit 30 Jahren bis zur Stunde, dass sinnvolle strukturelle Veränderungen auch im Sinne von mehr sozialer Marktwirtschaft im deutschen Gesundheitswesen nicht möglich sind wegen des Widerstandes der Lobby-Verbände.« Bei Frontal 21 wollte man das nicht glauben: »Aber es kann ja nicht sein, dass die Industrie stärker ist als die Politik. Also letzten Endes muss es doch heißen, die Politik muss sagen: Nein, so geht es nicht.« Horst Seehofer: »Ja, ich kann Ihnen nicht widersprechen.«
Dieser politische Offenbarungseid ist nun keineswegs Ausdruck einer vorübergehenden Schwäche. Horst Seehofer fügt dem Trauerspiel im Jahr 2010 einen zweiten Akt hinzu. Nur haben es nicht ganz viele Leute gemerkt. Der Zusammenhang war so lokal wie »lustig«; es gab Maibowle, und es durfte gelacht werden. Seehofer war am 10. Mai 2010 zu Gast bei dem fränkischen Comedian Erwin Pelzig, einem wahrhaft wachen Mann. Der hatte in der vorausgegangenen Sendung Uwe Dolata im Studio. Dolata, führender Wirtschaftskriminalist, Lehrbeauftragter in Würzburg, Korruptionsexperte im Bund Deutscher Kriminalbeamter, hatte mit seiner Bilanz nicht hinter dem Berg gehalten: »Die Pharmabranche hat unsere Politiker fest im Griff. Die sind praktisch nur noch Marionetten. Auch Herr Rösler schafft es nicht. Er wird bald als Bettvorleger enden.«
Erwin Pelzig hatte diese Botschaft irritiert. Vielleicht erhoffte er sich von Horst Seehofer eine beruhigende, wenigstens abschwächende Botschaft. Doch der bayerische Ministerpräsident, der zuvor entspannt an der Maibowle genippt hatte, setzte gegenüber Dolata noch eins drauf, als er Erwin Pelzig wie seine eigenen Wähler wissen ließ: »Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt, und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden!« Mir blieb das Lachen im Halse stecken. Ich habe aus Politikermund noch nie eine offenere Erklärung über unsere demokratischen Verhältnisse gehört. Es ist für mich sogar der indirekte Tipp, auf die Straße zu gehen. Aber es steckt in der Aussage auch eine Gefahr: Radikale Rattenfänger könnten darin eine Aufforderung sehen, sich des herrenlosen Hundes Demokratie anzunehmen. Es soll uns etwas sagen über die Zähne der Politik in diesem Spiel. Ich will es noch immer nicht glauben, dass nur die die Zähne, die den Politikern im Ruhestand wachsen, beißen.
So habe ich mich trotz allem gefreut, als ich in der Ärztezeitung las: »Der CDU -Politiker Heiner Geissler plädiert im Gesundheitswesen für einen radikalen Kurswechsel. Der Patient wird zum Kunden, der Arzt zum Fallpauschalenjongleur, diese Entwicklung im Gesundheitswesen hat der CDU -Politiker und frühere Bundesgesundheitsminister Dr. Heiner Geissler beim Gesundheitspflegekongress in Hamburg angeprangert. (…) Nötig sei Druck von der Straße, wie ihn die Großdemonstrationen der Klinikmitarbeiter in Berlin erzeugt habe: ›Sie müssen sich wehren, streiten, Lärm machen, gehen Sie auf die Straße, sonst werden Sie nicht gehört.‹«
Machen wir, Herr Geissler, worauf Sie sich verlassen können. Nur hätten wir gerne den einen oder anderen Aktiven aus Ihrer Zunft an der Seite. Es kann doch nicht sein, dass einen ganze Garde von Politikern in Demut wegknickt, weil ein paar Wirtschaftsbosse böse schauen. Oder sind es gar nicht die Wirtschaftsbosse? Ist es vielleicht die Parteiräson, die zum Gleichschritt zwingt? Wer bringt die Parteiräson zur Räson? Können wir uns den ganzen Idealismus abschminken? Besteht vielleicht das letzte Motiv allen politischen Handelns in dem einen, banalen Sätzchen: »Wer zahlt, schafft an«? Und wenn das so ist: Wer zahlt dann? Und wen? Wer wird da mit welchen Mitteln in den Zustand einer unbedingten Verbindlichkeit hineinmanövriert, dass der zahnradartige Durchgriff sich maschinenartig bis zur letzten kleinen Abgeordnetenmarionette fortsetzt? Und keiner schert aus, solange er einen Sessel unter dem Hintern hat? Das wäre doch jämmerlich!
Es gibt sie längst – die Systemopfer
Die Idee zu diesem Buch entstand durch meine Kontakte zu den Systemopfern dieser
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