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Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport

Titel: Krank in Deutschland. Ein Tatsachenreport Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Hartwig
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Krankenkassen wirtschaftlich denken. Wenn aber ihr ethisches Herz herausoperiert wird und durch das kalte Herz der Wertschöpfungsdenke ersetzt wird, dann wird alles verdorben. Dann schiebt man die »Kostenfaktoren« – ein solcher Kostenfaktor ist beispielsweise diese (zudem auch noch) junge Frau, die unbedingt einen elektrischen Rollstuhl braucht – so lange zwischen denkbaren Kostenerstattern hin und her, bis es nicht mehr geht. Irgendwann, das wissen auch die streitenden Kassen, ist für den einen oder den anderen eine Rechnung fällig. Aber bis dahin wird sich der »Kostenfaktor«vielleicht bei vielen kleinen Posten anderweitig beholfen oder aus dem Fenster gestürzt haben. Das ist die kostengünstigste Lösung für die Kasse, die sich um Sie auf dem Plakat so sorgt.
    In Frankreich werden die Zahlen der Krankenkassen veröffentlicht, geheime Rückhalte, Vermögensanhäufungen und Rückstellungen etc. sind unter den Augen der Öffentlichkeit nicht möglich, und die französische Verfassung sagt in der 1789 festgestellten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: Jeder Staatsbeamte ist auskunftspflichtig! Bei uns werden Zahlen nach Gutsherrenart verteilt. Mal erwirtschaften die gesetzlichen Krankenkassen in der öffentlichen Darstellung satte Überschüsse, und es gibt Rücklagen von 4 bis 5 Milliarden Euro wie in 2009 (keiner weiß so recht, warum), und mal vermisst man 11 Milliarden in 2010 – und wieder fehlt dafür jede saubere Rechnung. Man hat den Eindruck, dass die genannten Zahlen jeweils nur
politische Zahlen
sind. Man braucht sie, um einen bestimmten Effekt zu erzielen und bestimmte Modelle durchzusetzen. Beispielsweise für das Berliner Gauner- oder Meisterstück – wie soll man es nennen? – vom 6. Juli 2010, wonach die Kassen die einkommensunabhängigen Zusatzbeiträge, die allein von den Versicherten bezahlt werden, künftig nach eigenem Ermessen in unbegrenzter Höhe festlegen dürfen.
    Die Devise »Wir schieben das Bezahlen auf, solange es geht« ist zynisch gegenüber dem konkreten Patienten; sie blendet sein Leid vollkommen aus. Dieses Verhalten beweist eine unglaubliche Abgestumpftheit gegenüber konkreten Menschen und ist in höchstem Maße unfair. Manchmal tun mir die Kassenmitarbeiter, die von ihrem patientenfernen Management in den Nahkampf mit verzweifelten Patienten gejagt werden, richtiggehend leid. Aus persönlichen Gesprächen weiß ich, dass sie selbst in vielen Fällen darunter leiden, ja dass sie manchmal ihren Beruf nicht mehr ausüben können, weil die das verordnete Harakiri an den Patienten seelisch nicht mehr verkraften. Was wollen Sie als Mitarbeiter einem bettelnden Kranken noch sagen, wenn sie von oben her ein No go! auferlegt bekommen haben? Der ernsthaft kranke Patient ist für eine ausschließlich nach wirtschaftlichen Kriterien operierende Krankenkasse durchgehend lästig: als Kostenfaktor in der Bilanz, als lästiger Anrufer bei der Servicehotline, als permanenter Beschwerdeführer bei der Sachbearbeitung. Und so heißt es: Abwimmeln, weiterleiten, vertrösten, mit komplizierten Papieren beschäftigen!
    Für meine Begriffe ist dieses Vorgehen bereits verweigerte Hilfeleistung. Mir wird immer Emotionalität vorgeworfen. Ich stehe zu meiner Emotionalität und erkenne in dem Vorwurf an mich eher die allgemein um sich greifende Veränderung der Gefühlslage, wo es um den Nächsten geht. Lassen wir die um sich greifende Kälte zu, dann ist das, was heute noch »unterlassene Hilfeleistung« ist, in ein paar Jahren »Sachbeschädigung am Humanprodukt«.
    Bereits vor zwölf Jahren gab es einen aufsehenerregenden Warnruf, dessen Aktualität von Jahr zu Jahr nur zugenommen hat. Damals sprach Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar vom »sozialverträglichen Frühableben«, eine Formulierung, die gleich mit dem »Unwort des Jahres« bedacht wurde. In einem Radiointerview mit dem NDR hatte er diesen Begriff mit Anspielung auf die Sparpläne in der Gesundheitspolitik angewandt: Wörtlich sagte er: »Dann müssen die Patienten mit weniger Leistung zufrieden sein, und wir müssen insgesamt überlegen, ob diese Zählebigkeit anhalten kann, oder ob wir das sozialverträgliche Frühableben fördern müssen.« Auf die Nachfrage, ob die Pläne der Regierung zu einem früheren Tod von Patienten führen würden, meinte Vilmar: »Wird diese Reform so fortgesetzt, dann wird das die zwangsläufige Folge sein.« Die allgemeine Empörung über die Verwendung dieses Begriffs war groß.

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