KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
zuverlässig darzustellen. Zu Halsteds Zeiten und auch in den Jahrzehnten danach wurden zweifellos viel zu viele Frauen durch eine Operation verstümmelt, obgleich sich ihr Schicksal längst an anderer Stelle entschieden hatte.
Halsteds Doktrin der radikalen Chirurgie
birgt aber noch ein weiteres Problem – das der Übertherapie. Viele der 60 Frauen mit den vergleichsweise kleinen Tumoren und ohne Befall der Lymphknoten wären vermutlich auch durch einen weniger »heroischen« Eingriff als Halsteds Variante der radikalen Mastektomie gerettet worden. Mittlerweile wissen wir, dass Halsteds »Zentrifugaltheorie«, die Vorstellung von einer geordneten, stufenweisen Ausbreitung der Krebserkrankung, ziemlich schief ist. 21 Der Übergang vom lokalen Problem zur Systemerkrankung gleicht eher Cäsars Schritt über den Rubikon. Wenn die Würfel einmal gefallen sind, bleibt jeder Versuch der Heilung durch eine rein lokal begrenzte Form der Therapie vergebens.
Auf den Einzelfall bezogen ist der Zeitpunkt, zu dem eine Krebszelle zum Vagabunden wird, erratisch und unvorhersehbar. Möglich ist eine Streuung von Krebszellen bereits ab dem Zeitpunkt, an dem die Krebszellen die Basalmembran durchbrechen 22 und in Kontakt mit Blut- oder Lymphgefäßen kommen. Statistisch betrachtet wächst die Gefahr der Metastasierung mit der Dauer der Erkrankung und mit der Größe des Ursprungstumors. Wie ich aber im 3. Kapitel erklärt habe, entscheidet letztendlich die Biologie des Tumors über das Entstehen von Metastasen.
Nicht jede Krebszelle kann zur Metastase werden. Dies setzt ganzes Bündel molekularer Veränderungen voraus, die die biologische Ausstattung der Krebszelle so modifizieren, dass sie in die Lage versetzt wird, auf Wanderschaft zu gehen und als einzelne Zelle in fremder Umgebung zu überleben, zu siedeln und zu wachsen.
Auch wenn Krebszellen manchmal eine gewisse Disziplin aufweisen und sich zunächst über ein, zwei oder gar drei regionale Lymphknotenstationen ausbreiten, bevor sie ins System streuen, ist das eher die Ausnahme und nicht die Regel. Beim Brustkrebs wie auch bei sehr vielen anderen Krebsformen ist ein ausgeprägter Befall von benachbarten Lymphknoten ein Indiz dafür, dass der Rubikon zur Systemkrankheit sehr wahrscheinlich bereits überschritten wurde, selbst wenn Metastasen zu diesem Zeitpunkt noch nicht nachzuweisen sind. Der Streit um die richtige Therapiestrategie war also vorprogrammiert.Schon zu Halsteds Zeiten rief die Doktrin der radikalen Chirurgie Kritiker auf den Plan. Der bekannte Chirurg George Washington Crile (1864–1943) brachte seine Vorbehalte damals mit folgenden Worten auf den Punkt: »Wenn eine Krebskrankheit bereits so fortgeschritten ist, dass der Brustmuskel entfernt werden muss, um den Tumor zu entfernen, dann ist der Krebs meist schon im ganzen Körper.« 23
Glaubenskriege lassen sich nur durch Fakten beenden
– diese sollten allerdings erst fast 80 Jahre nach Halsteds furiosem Referat auf dem Tisch liegen. Der Mann, der dem Streit ein Ende machen sollte, war ein Chirurg aus Philadelphia namens Bernhard Fisher. Er stellte das Dogma der radikalen Mastektomie endlich auf den wissenschaftlichen Prüfstand. Fisher war Chirurg und Wissenschaftler. Skepsis lag ihm näher als das Vertrauen in Autoritäten. Bezeichnenderweise lautete sein Mantra: »In God we trust, all other must have data.« (Auf Gott vertrauen wir, alle anderen müssen Daten vorlegen.) 24 Gegen viele Widerstände rief er 1967, genau 60 Jahre nach Halsteds bahnbrechendem Vortrag, eine Studie ins Leben, die das Ziel hatte, drei verschiedene Behandlungsstrategien von Brustkrebs direkt miteinander zu vergleichen. In den folgenden Jahren nahmen insgesamt 1765 Patientinnen an diesem Versuch teil. Per Los wurde entschieden, ob sie sich einer radikalen Mastektomie in der Tradition Halsteds, einer einfachen Mastektomie oder lediglich einer Entfernung des sichtbaren Tumors mit gewissem Sicherheitsabstand und anschließender Bestrahlung der Brust unterziehen sollten. Die ersten Ergebnisse dieser Studie wurden 1982 vorgestellt und waren eine wissenschaftliche Sensation: Die Überlebenschancen der Frauen in allen drei Gruppen waren gleich groß! An diesem Ergebnis sollte sich auch 25 Jahre später nichts ändern. 25
Ich habe die Geschichte der Brustkrebschirurgie
ausführlich geschildert, weil sie beispielhaft für ein Kernproblem der Krebschirurgie steht. Die Doktrin größtmöglicher Radikalität ist nicht der Weisheit letzter
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