KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Krebs, soweit nur irgend möglich, wieder einzufangen und die Krankheit ein für allemal aus dem Körper zu eliminieren.
Die logische Konsequenz
war, die Schraube der Brustkrebschirurgie immer weiter zu drehen. Aus der einfachen Mastektomie 19 wurde die radikale Mastektomie, schließlich die superradikale und gar die ultraradikale Mastektomie. Bei diesen Operationen wurde den Patientinnen nicht nur die Brust, sondern auch der darunter liegende große Brustmuskel, die Lymphknotengruppen in der Achselhöhle, schließlich auch die Lymphknoten hinter dem Schlüsselbein und manchmal sogar das Schlüsselbein selbst und einige Rippen entfernt. Das gedankliche Prinzip war einfach: Je mehr Gewebe entfernt würde, desto größer sei die Chance, auch noch die letzten versprengten Tumorzellen einzufangen, und desto mehr Patientinnen müssten gerettet werden können.
Der Preis dafür war allerdings hoch, und bezahlen mussten ihn die operierten Frauen. Diese Operationsart glich einer Verstümmelung; insbesondere die Entfernung des großen Brustmuskels führte dazu, dass der Arm der betroffenen Seite fast funktionslos wurde. Der Ehrgeiz, so viele Lymphknoten wie möglich zu entfernen, hatte oft groteske Schwellungen des betroffenen Arms aufgrund eines Lymphstaus zur Folge. Tatsächlich gelang es Halsted mit seinen Operationsverfahren, die Rückfallraten im Bereich der Brust und ihrer unmittelbaren Umgebung immer weiter zu senken. Im Sommer 1907 präsentierte er seine Ergebnisse auf einem Kongress amerikanischer Chirurgen in Washington. Die Zahlen schienen ihm recht zu geben. Immerhin lebte fünf Jahre nach der Operation noch knapp die Hälfte der von ihm operierten Frauen ohne irgendein Anzeichen für eine Tumorerkrankung. Im Vergleich zu früheren Ergebnissen war das ein beindruckender Fortschritt.
Noch bis vor wenigen Jahren blieb unter Chirurgen diese Radikalität das entscheidende Kriterium im Kampf gegen den Krebs. Aber schon bei der differenzierteren Betrachtung von Halsteds eigenen Ergebnissen hätte das Dogma der Radikalität in Wanken geraten können. Bei 60 der 100 Frauen, die Halsted operiert hatte, fanden die Pathologen keine Absiedlungen des Tumors in den Lymphknoten, die bei der Operation entfernt wurden. Von diesen 60 Frauen ohne Lymphknotenbefall lebten fünf Jahre nach der Operation noch 45 Frauen ohne einen Hinweis auf einen Rückfall. Von den restlichen 40 Frauen, bei denen zum Zeitpunkt der Operation in den mitentfernten Lymphknoten unter dem Mikroskop tatsächlich Absiedlungen des Krebses zu beobachten waren, lebten fünf Jahre nach der Operation trotz radikaler Entfernung der befallenen Lymphknoten nur noch drei Frauen!
Halsteds Ergebnisse konnten also auch vollkommen anders interpretiert werden. Frauen mit scheinbar lokal begrenztem Brustkrebs lassen sich nach dieser Lesart in Wahrheit in zwei Gruppen aufteilen. Eine erste Gruppe bilden diejenigen Frauen, die tatsächlich eine lokale oder zumindest regionär begrenzte Erkrankung haben. In dieser Gruppe finden sich vor allem Frauen mit sehr kleinen Tumoren innerhalb der Brustdrüse, die keinen oder allenfalls einen sehr begrenzten Befall der unmittelbar benachbarten Lymphknoten aufweisen. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um Patientinnen, bei denen die Erkrankung nur scheinbar noch lokalisiert ist. In Wirklichkeit sind bei diesen Frauen schon zum Zeitpunkt der Diagnose viele Krebszellen im Blut- und Lymphgefäßsystem des Körpers unterwegs, die offensichtlich über die entsprechende Ausstattung verfügen, sich über kurz oder lang in Organen anzusiedeln und dort zu Metastasen heranzuwachsen.
Das Grundproblem der Krebschirurgie
besteht darin, diejenigen Patienten zu identifizieren, bei denen der Krebs die Grenze zur Systemkrankheit noch nicht überschritten hat. Zu Halsteds Zeiten gab es außer den konventionellen Röntgenbildern keine Möglichkeit, auf unblutige Weise in den Körper von Patienten hineinzuschauen. So war es oft nicht einmal möglich, vor einer Operation diejenigen Patienten zu identifizieren, die nach heutigen radiologischen Kriterien bereits sichtbare Metastasen aufwiesen.
Die Radiologie hat uns sehr viel weiter gebracht und die Nachweisgrenzen verschoben. Das Grundproblem ist aber bis heute nicht gelöst. Durch moderne Verfahren 20 gelingt es zwar, Metastasen aufzuspüren, wenn sie eine Größe von einigen Millimetern erreicht haben. Es ist aber bis heutenicht möglich, Mikrometastasen oder gar einzelne zirkulierende Tumorzellen
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