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KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

Titel: KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Bleif
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Krebs?
    Dienstag, 14. Oktober 2008
    I mogen blickte mit gemischten Gefühlen zur Decke. Am Galgen über ihrem Bett baumelte ein Beutel mit einer unspektakulären, wässrigen Flüssigkeit. Der Beutel enthielt 5-Fluoruracil, schon wieder ein Zytostatikum – 478 Milliliter Tortur oder Verheißung. Als ich die Rollklemme öffnete, begannen die Tropfen nach und nach in den Infusionsschlauch zu fließen und zogen eine ölige Spur in Richtung der Infusionsnadel, die in ihrer Armvene steckte. Als das Medikament in den Körper floss, kroch ein Gefühl der Kälte ihren Arm hinauf.
    Wir saßen schon wieder im 6. Stock des alten Ziegelbaus der Tübinger Frauenklinik und blickten über die Dächer des Universitätsviertels. Der Herbst hatte den Sommer verdrängt. Imogen hatte die Chemotherapie in den letzten Monaten kennen und hassen gelernt. Das 5-Fluoruracil war neuer Wein in alten Schläuchen.
    »Weißt du, langsam werde ich zum Profi für Zytostatika-Degustationen. Erst EC , das ekelhafte Lachsrot des Epirubicin, in Kombination mit dem trügerisch dezenten Cyclophosfamid. Seither kann ich keine roten Pullis mehr tragen, und schon beim Anblick des Linoleums vorne im Eingangsbereich wird mir schlecht.«
    Dabei hatte sicher irgendein einfühlender Innenarchitekt geglaubt, mit dem freundlichen Rot etwas menschliche Wärme in die kühle Architektur der Klinik zu bringen.
    Damals, im Frühsommer 2008, war es jedes Mal dasselbe gewesen. Am frühen Nachmittag waren wir nach Hause gekommen, und Imogen hatte eine bleierne Müdigkeit verspürt. Die Wirkung des EC setzte rasch ein. Meist gegen 16 Uhr erbrach sie sich zum ersten Mal, danach immer wieder bis in den Abend hinein. Die Mittelchen gegen Übelkeit, die ich immer wieder nachspritzte, zeigten bei ihr wenig Wirkung.
    Seit dieser Zeit stellte sie vor jeder Chemotherapie einen kobaltblauen Plastikeimer neben ihr Bett. Sie hatte ihn Buggs getauft. Im Laufe der folgenden Chemotherapie-Zyklen wurde er so etwas wie Imogens Maskottchen. Der treue Eimer setzte mit seiner kühlen und beruhigenden blauen Farbe einen trotzigen Kontrapunkt zum stechenden Rot des Medikaments.
    Der Spätsommer war dann Taxotere-Zeit. Kein Erbrechen mehr, dafür wurde jeder Bissen im Mund zu stumpfem Pappmaché, kein Geschmack, stattdessen das Gefühl, die Mundhöhle mit kochendem Tee verbrannt zu haben.
    Jetzt, über ein halbes Jahr später, war die Behandlung glücklicherweise fast abgeschlossen. Der Tumor war entfernt, Lymphknoten waren nicht befallen gewesen.
    »Ich bin gespannt, was jetzt kommt. EC war ein Paukenschlag, Taxotere eher ein quälender Dauerton, eine Art pharmakologischer Tinnitus. Und jetzt Cyclophosfamid, 5-FU, Methotrexat …? Kindern wird immer erzählt, Medizin muss bitter sein, damit sie wirkt. Aber mit dem Zeug haben sie vielleicht doch ein bisschen übertrieben …«
    Imogen hatte ihren Galgenhumor nicht verloren. Tropfen für Tropfen leerte sich der Beutel. »Der Krebs ist draußen. Eigentlich bin ich ja gesund – nur noch ein paar Bestrahlungen. Chemo vor der OP, Chemo nach der OP. Meinst du, ich brauch’ das Zeug in den Beuteln überhaupt noch?«
    Ich zuckte die Schultern: »Wenn ich das wüsste, wäre ich der schlaueste Onkologe der Welt.« Ich war mir allerdings nicht sicher, ob ich es in diesem Fall wirklich wissen wollte …
    • • •

Der weiße Tod und die große Dunkelheit – akute lymphatische Leukämie
    »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« Auch wenn Hölderlins trotziges Diktum für viele krebskranke Menschen wie der Gesang eines ängstlichen Kindes im Dunkeln klingen mag, so gab es in der Geschichte der Krebsmedizin tatsächlich Momente, in denen ein Lichtstrahl der Hoffnung plötzlich und unerwartet ausgerechnet dort hinfiel, wo zuvor schwärzeste Finsternis herrschte.
    Bis in die fünfziger Jahre war die Leukämie bei Kindern das wahrscheinlich bitterste und deprimierendste Kapitel im Buch der an Enttäuschungen gewiss nicht armen Onkologie. Kinder leiden glücklicherweise selten an Krebs. Doch im Unterschied zu den Erwachsenen ist ausgerechnet die akute lymphatische Leukämie (ALL) die bei Weitem häufigste Krebserkrankung im Kindesalter. Bis vor 60 Jahren war diese Diagnose gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Die Leukämie raffte die kleinen Körper der erkrankten Kinder schneller hinweg als jede andere bekannte Form des Krebses.
    Im Jahr 1860 wurde Maria Speyer
, die fünfjährige Tochter eines WürzburgerSchreiners, ins örtliche

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