KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Getrieben durch eine groß angelegte politisch-mediale Kampagne, die nicht zuletzt durch eine Gruppe von Mäzenen und Lobbyisten um Sidney Farber initiiert wurde, gründete das Nationale Krebsforschungsinstitut der USA: das Cancer Chemotherapy National Service Center (CCNSC). Zwischen 1954 und 1964 testete das CCNSC 82
700 synthetische chemische Verbindungen und 17
200 Pflanzeninhaltsstoffe auf ihre Brauchbarkeit als Krebsmedikament. Zu den Boomzeiten dieses Screening-Programms »verbrauchten« die Laboratorien des Instituts dabei über eine Million Labormäuse im Jahr. 23
Nicht jeder Onkologe teilte allerdings die Begeisterung für dieses Großforschungsprogramm. Einige Krebsforscher sahen in dieser Form der Wissenschaft eine Art von Schleppnetzfischerei ohne Plan und Ziel, eine blinde Jagd in Gewässern, von denen niemand wusste, wie fischreich sie tatsächlich sind. Die Kritiker meinten, dass Aufwand und Ertrag des Programms in keinem rechten Verhältnis zueinander standen. Gemessen am Einsatz gingen aus dieser konzertierten Aktion tatsächlich nur wenige Chemotherapeutika hervor, die heute noch in Gebrauch sind.
Manch dicker Fisch gerät rein zufällig an den Angelhaken. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet ein Krebsmedikament wie Cisplatin seine Entdeckung purem Glück und einem aufmerksamen Wissenschaftler verdankt. Das Cisplatin ist heute eines der gebräuchlichsten und wichtigsten Chemotherapeutika zur Behandlung solider Tumoren. 24
Im Jahr 1965 wollte der Biophysiker Barnet Rosenberg herausfinden, obelektrische Ströme die Teilung von Bakterien stimulieren. Er verwendete dabei Kulturflaschen mit Elektroden aus Platin. Rosenberg musste erstaunt feststellen, dass – ganz entgegen seiner Annahme – die Bakterien ihre Zellteilung immer dann einstellten, wenn das System unter Spannung gesetzt wurde. Er fand bald heraus, dass dieser Effekt nichts mit der Elektrizität zu tun hatte. Immer wenn der Strom floss, reagierte das Platin der Elektroden mit der Salzlösung zu einer löslichen Verbindung namens Cisplatin. Es stellte sich heraus, dass es diese Platin-Verbindung war, welche die Teilung der Bakterien unterbrach.
Diese Geschichte zeigt, dass die Einführung neuer Chemotherapeutika bis weit ins letzte Viertel des 20. Jahrhunderts hinein zum guten Teil auf reiner Empirie beruhte. Merkwürdigerweise schien sich kaum jemand dafür zu interessieren, wie und warum ein Chemotherapeutikum auf Tumorzellen wirkt.
Der schmale Spalt – Variationen eines immer gleichen Themas
Der Damm der Skepsis gegenüber der medikamentösen Krebstherapie brach genau zu einer Zeit, als sich die Biologie in einer der größten Umbruchphasen ihrer Geschichte befand. Im Jahr 1944 hatte Oswald Avery mit seiner Entdeckung der DNA die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt auf ein bisher weitgehend ignoriertes Molekül gelenkt. 25 Von da an ging es Schlag auf Schlag. Schon neun Jahre später entschlüsselten James Watson und Francis Crick die geheimnisvolle räumliche Struktur des riesenhaften DNA-Moleküls und kamen damit der Funktionsweise des genetischen Textes ein gutes Stück näher. Bereits Ende der fünfziger Jahre waren die grundlegenden Vorgänge bei der Verdopplung der Erbsubstanz bekannt. In einem Zeitraum von kaum 20 Jahren war die Biologie in eine völlig neue Welt vorgedrungen und begann jetzt in atemberaubender Geschwindigkeit, das komplizierte Spiel der Moleküle im Innern der Zelle zu entschlüsseln. 26
Im 2. Kapitel dieses Buches habe ich die unterschiedlichen Phasen des Zellzyklus und die Grundzüge der Zellteilung dargestellt. Im Zentrum dieses Zyklus des Lebens steht die DNA. Die G1-Phase, die erste Phase im Leben einer neuen Zelle, ist durch die Produktion und Bevorratung unzähliger neuer Nukleotide geprägt. Diese Nukleotide sind der Stoff, aus dem die Buchstaben des genetischen Textes gemacht sind. Der Produktion von Proteinen und Nukleotiden folgt die S-Phase, die Phase der DNA-Replikation. Aus eins mach zwei:Die Doppelhelix wird aufgespleißt, entwunden, und indem die einzelnen Stränge als Matrix genutzt werden, entstehen Buchstabe für Buchstabe zwei neue Doppelstränge, jeder ein Zwilling des andern. Nach der S-Phase verfügt eine Zelle also über ein Original und eine Kopie ihres kompletten genetischen Textes. Die Zelle ist jetzt diploid und fast schon bereit, zwei neue Tochterzellen zu bilden. In der folgenden G2-Phase werden die letzten Vorbereitungen für die
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