KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

Therapiekonzept
allerdings nicht durch Konkurrenz, sondern durch Kooperation. Die Fähigkeit zu räumlich differenziertem Vorgehen macht die Strahlentherapie zum idealen Partner der Chirurgie. Auch wenn die chirurgische Entfernung eines Tumors etwas konkurrenzlos Endgültiges zu haben scheint, hat die Erfahrung gezeigt, dass auch lokale Rückfälle und nicht nur Metastasen die Erfolge der Chirurgie schmälern. Die Grenzen des sichtbaren Tumors sind nicht immer die Grenzen der Krebserkrankung. Einzelne Tumorzellen können in die unmittelbare Umgebung des sichtbaren Tumors oder in angrenzenden Lymphknoten vagabundieren. Daher ist die Operation nicht immer der Weisheit letzter Schluss. Bei vielen Krebsarten hat sich in bestimmten Stadien eine Kombination von Operation und Bestrahlung bewährt. Nach der operativen Entfernung des sichtbaren Tumorgewebes werden die erweiterte Tumorregion und gegebenenfalls auch das angrenzende Lymphabflussgebiet nachbestrahlt, um möglichst jede vielleichtnoch verbliebene Krebszelle abzutöten. Insbesondere wenn die Abstände vom Tumor zum Schnittrand sehr klein sind oder wenn der Pathologe in der Aufarbeitung des Operationspräparats Tumorzellen in den Lymphknoten gefunden hat, kann eine Kombination von Operation und adjuvanter Strahlentherapie sinnvoll sein.
    Solche kombinierten Konzepte wurden in den letzten 30 Jahren zur Standardbehandlung für bösartige Hirntumoren, für lokal fortgeschrittene, aber operable Tumoren im Mund-, Rachen- und Kehlkopfbereich, für fortgeschrittene Tumoren des Enddarms, der Gebärmutter, des Gebärmutterhalses, des Hodens und für manche Sarkome. Beim Brustkrebs hat diese Form der Kombinationsbehandlung aus Operation und Strahlentherapie die Radikaloperationen von Halsted abgelöst. Dadurch ist es heute möglich, mehr als 70 von 100 Frauen mit Brustkrebs ihre Brust zu erhalten. In den frühen Stadien der Erkrankung bietet die Entfernung des Tumors mit vergleichsweise kleinem Sicherheitsabstand eine ähnlich hohe Heilungschance wie die Radikaloperationen, wenn die Brust anschließend nachbestrahlt wird.
    Manchmal ist es von Vorteil, die Reihenfolge umzudrehen und Tumoren vor einer Operation zu bestrahlen. Die Onkologen nennen diese Behandlungssequenz dann eine neoadjuvante Strahlentherapie. Eine Vorbestrahlung verkleinert den Tumor und kann unter Umständen inoperable in operable Erkrankungen verwandeln. Sie kann auch helfen, durch die Verkleinerung des Resektionsgebietes operative Verstümmlungen zu vermeiden. 77 Beim Enddarmkrebs in fortgeschrittenem Stadium hat sich die Form der Therapie seit einigen Jahren durchgesetzt. Auch bei Sarkomen, Tumoren der Speiseröhre oder bei lokal begrenzten, aber nicht ohne weiteres operablen Lungentumoren ist sie in Erprobung.
    Seit den Zeiten von Röntgen und Halsted
haben sich Chirurgie und Strahlentherapie in geradezu schwindelerregendem Tempo weiterentwickelt. Bei einzelnen Krebserkrankungen wie dem Hodenkrebs oder dem Morbus Hodgkin sind nicht nur die technologischen Fortschritte gewaltig. Während zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die meisten Erkrankten dem Hodenkrebs zum Opfer fielen, starben im Jahr 2006 nur noch 156 von fast 5000 erkrankten Männern an diesem Krebs. 78
    Trotzdem mutet das Verhältnis zwischen Krebsforschung und Krebs manchmal wie das berühmte Rennen zwischen Hase und Igel an. Trotz des gewaltigen Innovationsschubs der letzten 100 Jahre beginnt die Krebssterblichkeiterst in jüngster Zeit langsam zurückzugehen, nachdem sie bis in die neunziger Jahre stetig angestiegen ist. Auf den Krebsstationen liegen immer noch viel zu viele Menschen, die sterben werden, weil sie dem Zugriff von Chirurgie oder Radioonkologie längst entglitten sind. Es gibt eine Grenze, die für Stahl und Strahl immer unüberwindlich bleiben wird. Sobald der Krebs seine angestammte Heimat verlassen und sich im Körper ausgebreitet hat, kann ihn keine lokale Form der Therapie mehr zurückholen. Wenn Pandoras Büchse einmal geöffnet wurde, dann können sowohl Chirurg als auch Strahlentherapeut bestenfalls noch lindern, aber nicht mehr heilen.
    Jenseits dieser Grenze bedarf es anderer Instrumente. Nur eine im ganzen Körper wirksame Therapie kann einer systemischen Erkrankung gerecht werden. Mit anderen Worten, was viele Krebspatienten dringender brauchen als Skalpell oder Linearbeschleuniger, wäre ein wirksames Krebsmedikament.

9. Kapitel
Die Jagd auf eine lernäische Schlange – Warum gibt es nicht die Pille gegen den