KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Universitätsspital eingeliefert. Maria, bis vor zwei Tagen ein fröhliches und lebhaftes Kind, war müde, fast apathisch, und ihr Körper war übersät von unerklärlichen blauen Flecken, als sei sie furchtbar verprügelt worden. Schon am Morgen nach der Aufnahme ins Krankenhaus bekam sie hohes Fieber und eine ausgeprägte Nackensteife.
Damals war Michael Anton Biermer, ein Schüler Virchows, in Würzburg tätig. Biermer nahm dem Kind Blut ab und traute seinen Augen kaum. Als er den Ausstrich des kindlichen Blutes unter dem Mikroskop begutachtete, musste er feststellen, dass das Blut des kleinen Mädchens voll war mit Millionen ungewöhnlich geformter weißer Blutkörperchen. Biermer, ganz im Sinne Virchows, zog sofort die richtigen Schlüsse. Aufgeregt zeigte er seinen Kollegen diesen »exquisiten Fall einer Leukämie«. Biermers Enthusiasmus war in gewisser Weise verständlich: Noch nie zuvor hatte jemand das Krankheitsbild der Leukämie bei einem Kind beschrieben.
Schon wenige Stunden nach seinem spektakulären Fund begann die kleine Maria, Blut zu erbrechen und fiel ins Koma. Sie starb nicht einmal drei Tage, nachdem die ersten Beschwerden aufgetreten waren. 11
Fast 80 Jahre später
– im Jahr 1937 – veröffentlichte Henry Luce, der Gründer des Nachrichtenmagazins Time , einen vielbeachteten Artikel mit dem bezeichnenden Titel »Krebs: Die große Dunkelheit«. 12 Die Aussichten auf eine medikamentöse Behandlung von Krebserkrankungen hatten sich in den 80 Jahren seit dem Tod der kleinen Maria nicht um Haaresbreite verbessert. Vor allem der »Weiße Tod«, die Leukämie, hatte nichts von seinem Schrecken verloren. Ärzte, Schwestern und vor allem die Eltern der betroffenen Kinder standen dieser Krankheit immer noch hilflos gegenüber.
Die Leukämie schien eine seltsame Chimäre, einerseits eine Erkrankung des Blutes, die einen Mangel an roten Blutkörperchen und Blutplättchen verursacht, andererseits aber eine produktive Erkrankung, die atypische weiße Blutkörperchen generiert, die sich wie Krebszellen vermehren. Der Ursprung dieser leukämischen Zellen blieb diffus. Sie entstanden im Knochenmark, ohne dass sie näher zu lokalisieren oder räumlich einzugrenzen waren. Trotz aller Fortschritte in Chirurgie und Strahlentherapie lag diese Erkrankung weit jenseits der therapeutischen Möglichkeiten der Medizin der dreißiger Jahre. Aufgrund ihrer Janusköpfigkeit – und vielleicht auch, weil die Beschäftigung mit ihr weder Erfolgserlebnisse noch wissenschaftliche Meriten versprach – war die Leukämie so etwas wie der Paria unter den Krebskrankheiten. Leukämiewar bis in die fünfziger Jahre eine in jeder Hinsicht ungeliebte Krankheit, für die sich niemand recht verantwortlich fühlte. Die Hämatologen, die Spezialisten für Blutkrankheiten, die Kinderärzte und die Krebsmediziner schoben sich gegenseitig die Zuständigkeit zu wie eine heiße Kartoffel. Wer sich um die Kinder kümmerte, die an Leukämie erkrankt waren, brauchte vor allem ein großes Herz und ein unglaubliches Maß an Frustrationstoleranz.
Intuition, Querdenken, Analogien, Hartnäckigkeit und Glück
Weder Goodman noch Gilman oder Farber wussten, worauf der kleine, aber bedeutende Unterschied zwischen Tumorzellen und gesunden Zellen beruht. Und sie wussten letztlich auch nicht, was in einer Krebszelle vor sich geht, wenn sie mit Mechlorethamin oder Aminopterin behandelt wird. Die Entdeckung dieser beiden Substanzen war nicht das Ergebnis jahrzehntelangersystematischer Forschung from bench to bedside – vom Labor bis ans Krankenbett. Am Anfang stand nicht die Entschlüsselung der molekularen Vorgänge in der Krebszelle als Basis für die Entwicklung eines Therapieprinzips, das über viele Zwischenschritte ermöglicht, ein Medikament zu konzipieren, das später auch Krebspatienten gegeben wird und ihnen tatsächlich hilft.
Die ersten beiden Chemotherapeutika waren eher das Resultat eines methodischen Kurzschlusses. Der Erfolg beruhte auf einer Kombination von Intuition und kreativer Querdenkerei, auf mutigen bis gewagten Analogieschlüssen, auf stierköpfiger Hartnäckigkeit und einer gehörigen Portion Glück. Keine der beiden Substanzen konnte auch nur einen der behandelten Patienten definitiv heilen. Doch sie erwiesen sich als Türöffner. Nicht nur Onkologen, auch Patientenorganisationen meinten nun endlich, die Morgenröte zu sehen.
Binnen eines Jahrzehnts schwang das Pendel
von unheilvoller Skepsis zu verhaltenem Optimismus.
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