KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Wahrscheinlichkeit abzutöten. Eine moderne Leukämiebehandlung ist ein kompliziertes Programm, das sich über viele Monate hinzieht. Die Ärzte lernten außerdem nach und nach, die unausweichlichen Nebenwirkungen besser in den Griff zu bekommen. 47
Bei allen Verbesserungen gibt es aber eine rote Linie, die einer weiteren Eskalation eine Grenze setzt. Diese rote Linie wird von den gesunden Stammzellen des Blutes im Knochenmark markiert. Diese Zellen sind die gesunden Verwandten der leukämischen Zellen. Sie sind daher ebenfalls ausgesprochen empfindlich gegenüber allen Formen von Giften, die die Zellteilung hemmen. Jede Chemotherapie tötet einen Teil dieser Stammzellen ab und verursacht damit manchmal schwerwiegende, aber in der Regel vorübergehende Veränderungen des Blutbilds. Die verbliebenen Stammzellen kompensieren solche Ausfälle in der Regel rasch – vorausgesetzt die Chemotherapie war so dosiert, dass eine ausreichende Zahl gesunder Blut-Stammzellen überlebt hat.
Leider gibt es sehr aggressive Formen der Leukämie
, bei denen ein paar Krebszellen die Dosierungen überleben, welche die konventionellen Formen der Polychemotherapie nicht überschreiten sollten, weil sie ihre Konzession an die Stammzellen des Blutes zu machen haben. Ende der sechziger Jahre wurde vor allem in Seattle eine Strategie entwickelt, mit der auch diese Hürde genommen werden sollte.
Die Grundidee war einfach: Wenn die Chemotherapie so hoch dosiert werden muss, dass dabei das komplette blutbildende System des Patienten abstirbt, dann muss ihm nach der Therapie eben neues Knochenmark transplantiert werden. Es war vor allem Edward Donnall Thomas, einer von SidneyFarbers Schülern, der eine Technik entwickelte, die Blut-Stammzellen aus dem Knochenmark gesunder Spender zu »ernten« und sie dann wie eine Bluttransfusion in den Kreislauf eines Empfänger zu übertragen. Es stellte sich heraus, dass die Stammzellen genetisch so ausgestattet sind, dass sie sich nach der Transfusion selbständig ihre Nischen im leergeräumten Knochenmark des Empfängers suchen und mit ein wenig Glück dort anwachsen und die Blutbildung wieder ankurbeln.
Auch wenn das Prinzip einfach erscheint, so war der Weg zur Realisierung einer solchen allogenen Knochenmarks- oder Stammzelltransplantation zwischen genetisch nicht identischen Individuen mit ungeheuren Schwierigkeiten gepflastert. Mit den fremden Blut-Stammzellen wird dem Empfänger schließlich auch ein völlig fremdes Immunsystem eingepflanzt, das sich dann gegen die gesunden Organe der neuen, ihm fremden Umgebung wenden kann. Vor der Transplantation muss daher sichergestellt werden, dass zwischen den Gewebe-Antigenen von Spender und Empfänger eine möglichst weitgehende Übereinstimmung herrscht. Außer bei Transplantationen zwischen Geschwistern gleicht die Fahndung nach einem geeigneten Spender der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Selbst bei großer Übereinstimmung zwischen den Gewebemerkmalen kann das Transplantat seine neue Umgebung attackieren, und es kommt zum Kampf des neuen Immunsystems gegen seinen Wirt. 48 Die Onkologen bezeichnen diese Komplikation einer Allotransplantation als »Graft versus Host«-(GvH-)Reaktion.
Daher muss das neue Immunsystem
oft noch lange Zeit nach der Transplantation durch Medikamente bis zu einem gewissen Grad an die Kandare genommen werden, um die GvH-Reaktion weitgehend zu unterdrücken. Bei Unterdosierung solcher Medikamente droht eine lebensgefährliche Eskalation der GvH-Reaktion, bei zu hoher Dosierung wächst eventuell das Spendermark nicht an, und es drohen schwere Infektionen oder gar ein Rückfall der Leukämie.
Vor allem in den Anfangsjahren gelang die Fahrt durch diese schmale Passage zwischen Skylla und Charybdis nur selten. In Thomas’ erster Studie zur allogenen Knochenmarktransplantation überlebten nur 12 von 100 der behandelten Patienten. Inzwischen ist auch diese ultimative Form der Chemotherapie in hochspezialisierten Zentren zur Routine geworden. Sie kann manchem Patienten das Leben retten, dem mit einer konventionellen Form der Chemotherapie nicht zu helfen gewesen wäre.
Die Chemotherapie der akuten Leukämie ist gleichzeitig Archetyp und Extremvariante der medikamentösen Krebstherapie. Bei dieser Krebserkrankung ist sie die einzige Therapie, die eine Aussicht auf Heilung bietet. Sie ist ohne Alternative, ein Spiel um Leben und Tod, und geht mit einem hohen Risiko einher, dessen Gewinnchancen sich in den letzten vier
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