KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
mich: »Du hast recht. Es hat keinen Sinn, mit dem Zeug weiterzumachen. Der Tumor scheint sich daran gewöhnt zu haben. Wir müssen was anderes probieren.«
»Noch eine Chemo?« Imogen schaute mich an. »Glaubst du dran?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Es gibt schon noch ein paar Sachen, die wir ausprobieren können.« Ich war mir tatsächlich vollkommen unsicher. Die Chance, dass eine Chemotherapie anspricht, wird mit der zunehmenden Zahl der Versuche immer geringer.
Wir waren inzwischen an einer kleinen Fußgängerbrücke angekommen.Der Weg gabelte sich. Der Nebel wurde immer dichter. Der Pfad vor uns verlor sich nach knapp 30 Metern im weißgrauen Dunst. Auch das andere Flussufer war kaum noch zu sehen.
Ich schaute Imogen an. »Wir sollten es probieren. Aber du musst mir eins versprechen. Vergiss die Laborwerte, vergiss die Röntgenbilder. Du musst das Gefühl haben, dass das Leben mit der Chemo besser ist als ohne. Nichts anderes zählt …«
Wir gingen über die Brücke.
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Als sich Martin von Tours an einem kalten Wintertag dem Stadttor von Amiens näherte, bemerkte er an der Mauer vor dem Tor einen frierenden, unbekleideten Mann, im Schmutz kauernd. Er hatte Mitleid mit ihm, und so nahm er sein Schwert und teilte kurzerhand seinen Umhang. Er hüllte den zitternden, alten Mann in die abgetrennte Hälfte seines dicken, wärmenden Mantels. Diese berühmte Geste begründete nicht nur die bekannteste Legende vom heiligen Martin. Das Umhüllen mit dem Mantel wurde auch zum Archetyp menschlicher Fürsorglichkeit.
Wo Ärzte nicht mehr heilen können,
ist Fürsorge und Linderung ihre vornehmste Aufgabe. Auch heute noch ist Krebs oft unheilbar. Immer noch stirbt weltweit fast die Hälfte der Krebspatienten an ihrer Krankheit. Dem Tod gehen oft einige Lebensjahre mit der Erkrankung voraus. Was für diese Patienten zu tun bleibt, ist Fürsorge. Die Linderung (Palliation) der Krankheit und ihrer Symptome ist eine der wichtigsten Aufgaben der Onkologie. Der Begriff Palliation stammt nicht zufällig vom lateinischen Verb palliare ab, was so viel heißt wie »ummanteln« oder »mit einem Mantel umhüllen«.
Dieser »Mantel« der Palliativtherapie kann unterschiedlichster Natur sein. Wenn von palliativer Medizin die Rede ist, denken viele in erster Linie an die Behandlung von Schmerzen oder im weiteren Sinn an die symptomatische Therapie von all den körperlichen Problemen und Beschwerden, die vom Krebs verursacht werden können. 73 Auf den ersten Blick scheint es daher nicht sonderlich plausibel, um die Lebensqualität zu verbessern, eine nebenwirkungsträchtige Behandlung wie die Chemotherapie einzusetzen. Trotzdem hat sich die medikamentöse Tumortherapie auch in dieser unspektakulären, aber wichtigen Rolle inzwischen fest etabliert. Gerade bei Erkrankungen wiedem metastierten Brustkrebs gelingt es mit einer palliativ intendierten Antihormon- oder auch Chemotherapie manchmal, den Krebs in die Rolle einer chronischen Erkrankung zu drängen, die zwar nicht abgeschüttelt werden kann, mit der die Patientinnen aber unter Umständen Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte ein auskömmliches Leben führen können. Auch bei anderen häufigen Krebserkrankungen wie dem Darmkrebs, dem Eierstockkrebs, den langsam wachsenden, aber inkurablen Formen von Lymphdrüsenkrebs und sogar bei einigen Varianten des Lungenkrebses 74 kann dies gelingen.
Es ist außerordentlich schwierig,
eine allgemeine Regel dafür aufzustellen, wann eine palliative Chemotherapie angebracht ist. Manche Krebserkrankungen wie Brust- oder Darmkrebs sind dafür eher prädestiniert sind als andere, weil wir für sie über eine breite Palette Medikamente verfügen, die durchaus wirksam sein können. Die definitive Entscheidung zur palliativen Chemotherapie kann aber immer erst nach der Prüfung der individuellen Gegebenheiten jedes Einzelfalls erfolgen. Dabei sind die Aspekte, die ein Arzt objektiv überprüfen kann, nur eine Seite der Medaille. Natürlich muss er sich vergewissern, ob die Krebserkrankung dem Patienten genügend körperliche Reserven gelassen hat, um eine solche Therapie zu überstehen. 75 Vor allem nicht schaden (primum nihil nocere) – Hippokrates’ berühmtes Diktum ist speziell in der Palliativtherapie immer noch das oberste Gebot.
Die andere Seite der Medaille kann nur aus dem Blickwinkel des Patienten in Augenschein genommen werden. Jede palliative Therapie muss in das Lebenskonzept des Betroffenen passen.
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