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KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)

Titel: KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Bleif
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elementare Perspektivwechsel eröffnet völlig neue Optionen. Natürlich gehört auch die Palliativmedizin zum Maßnahmenkatalog »Lebensqualität« sowie die Dinge, die im erweiterten Sinn immer noch als Therapie verstanden werden können. Damit meine ich die Ernährung, Sport und Bewegung, Massagen, Bäder, Physiotherapie, Entspannung, Meditationen oder auch Angebote aus der Komplementärmedizin, aber auch die Psychotherapie.
    Der entscheidende Punkt
ist aber ein anderer: Im Grunde sollte das komplette bisherige Leben auf den Prüfstand gestellt werden. Lebensqualität umfasst die körperliche Verfassung ebenso wie das psychische Befinden, die Beziehungen zu den Menschen, die uns wichtig sind, aber auch Chancen für Momente der Selbstbestätigung unter den veränderten Rahmenbedingungen der Krankheit. Mehr als andere brauchen Krebskranke die Fähigkeit, den Augenblick zu greifen und zu leben:

    Ein süßer Geiz, der Stunde zählt
    und jede prüft auf ihren Glanz –
    O Sorge, dass uns keine fehlt;
    Und gönn uns jede Stunde ganz. 16
    Die magischen Momente im Leben
können ganz nach Veranlagung und Vergangenheit sehr unterschiedlich sein: ein Lied in einer Vollmondnacht, ein Spaziergang im Rauhreif, ein Essen mit guten Freunden, ein tiefer Gedanke, die gleißende Sonne am Mittelmeer, an den Küsten des Lichts oder ein Abend am Lagerfeuer im Arm der Geliebten. Die Sinne für den unverhofften Zauber des Augenblicks zu schärfen, das ist wichtig und ausschlaggebend. Gelingt das Leben im Moment, ist es gleichermaßen Glück und Befreiung. Aufgehend im Augenblick, hadern wir weder mit der Vergangenheit noch fürchten wir die Zukunft. Dieser Sinn für Magie kann weder erklärt noch verordnet werden.
    Ist meine eigene Erfahrung, als Imogen ihre Entscheidung gefällt hatte, typisch oder nicht? Ich weiß es nicht – ich kann nur sagen: Der Krebs wurde für Imogen und für mich zum Lehrmeister. 17 So verstanden ist Krebs sogar eine Gelegenheit. Er fordert uns heraus, wirklich zu leben. Wer diese Chance ergreifen kann, wird durch die Krankheit positiv radikalisiert. Krebs ordnet die Lebensprioritäten vollständig neu. Alles wird durch das große grobe Sieb geschüttelt. Kleinigkeiten, kleine Sorgen, Nickeligkeiten und Ängste, die sich wie Mehltau über den Alltag legen, fallen unbeachtet durch die Maschen. Hängen bleiben die großen, die wichtigen, die richtigen Dinge. Sich von unwichtigen belastenden Nebensächlichkeiten zu befreien ist eine Sache. Wirklich leben bedeutet, ungelebte Träume zu leben, falsche Rücksichten hinter sich zurückzulassen. Die ganz neuen, bisher ungeahnten oder nicht gewagten Prioritären und das Gespür für den Augenblick bilden – grob skizziert – den neuen Kompass, an dem wir uns orientieren können. Was in unserem Leben hat Gewicht? Was lässt sich leichten Herzens über Bord werfen, weil es gewogen und für zu leicht befunden wird?
    Gewichtig sind ohne Zweifel menschliche Beziehungen, die Verbindung zu Freunden, zur Familie und vor allem zum Partner. Krebs wirkt auf das soziale Netz wie Scheidewasser. Er trennt Wichtiges von weniger Wichtigem. Oberflächlichere, nur lose geknüpfte Bindungen zu Mitmenschen und reine Zweckbündnisse lösen sich in diesem extremen Milieu oft sang- und klanglos auf.
    Krebs ist eine Zumutung.
Auch für die Umgebung des Krebskranken. Viele Menschen sind verunsichert und wissen nicht, wie sie mit dem Thema Krebs und wie sie mit den Krebskranken umgehen sollten. Aus Angst vor falschen Tönen meiden sie das Thema und oft den Kranken selbst. Oder man flüchtet sich, getrieben aus echter Sorge und geprägt von Konventionen, bei telefonischen Nachfragen gern und oft abrupt in den Satz, der vor allem den Anrufenden entlasten soll: »Du weißt, melde dich, wenn du etwas brauchst …« und beendet das Gespräch, das nie wirklich begonnen hat. Falsche Scheu und unsichere Zurückhaltung sind Formen sozialer Passivität. Sie schonen den Kranken keineswegs – ganz im Gegenteil verstärken sie sein Gefühl, nicht mehr zur Gemeinschaft der Lebenden zu gehören und durch die Krankheit zum sozialen Paria geworden zu sein.
    Ähnlich problematisch ist auch ein zweites, leider ebenso häufiges Kommunikationsmuster, die »fröhliche Bagatellisierung«. Typisch für diese Form des Umgangs sind pseudooptimistische Bemerkungen wie: »Du wirst das schon schaffen. Du warst immer eine Kämpfernatur.« Solche Bemerkungen wollen aufmuntern, entlasten aber in erster Linie den Sprecher

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