KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
verständlich wie gefährlich.
Subjektive Krankheitstheorien unterstellen oft eine persönliche Verantwortung für das Geschehene. Das schmerzt, und lässt gleichzeitig das Gefühl aufkommen, den Körper doch noch ein wenig kontrollieren, steuern und lenken zu können. Krebs greift unsere persönliche Autonomie gefühls- und rücksichtslos, direkt und gewalttätig an. Tief in uns wütet plötzlich ein Feind, der nicht von außen eingedrungen, sondern durch Metamorphose des eigenen Fleisches entstanden ist. Unser Körper lässt uns ohne ersichtlichen Grund im Stich und wendet sich gegen uns. Subjektive Krankheitstheorien sind verlockend. Sie bieten für diesen beängstigenden Vorgang scheinbar logische oder zumindest pseudologische Erklärungen. Sie loten die eigene Biographie aus und verorten die Wurzeln der Erkrankung in ihr, um die Krankheit wieder in den Bereich unserer Zugriffsmöglichkeiten zu rücken – zumindest in der Theorie. Darum werden auch sehr rationale Geister für solche Spekulationen anfällig. Wer selbst an Krebs leidet, sollte versuchen, sich bewusst zu machen, wie sehr ihn die Suche nach persönlicher Verantwortlichkeit umtreibt. Solche Gedanken lassen sich weder einfach ausreden, noch sollte man sie zu verdrängen suchen.
Wer sich prüft und fündig wird, könnte versuchen, den Blick zu drehen.Die Vergangenheit ist weniger interessant als die Zukunft. An die Stelle des rückwärtsgewandten »Was habe ich falsch gemacht?« sollte eine andere Frage treten.
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Dienstag, 16. Februar 2010
E s war wieder so weit. Am Freitag zuvor hatte ein erneutes Computertomogramm die niederschmetternde Wahrheit über die zwei letzten Therapiezyklen ans Licht gebracht. Anfang Januar hatten wir zunächst den Anschein einer Hoffnung, dass die neue Chemotherapie eine gewisse Wirkung zeigte – die Laborwerte hatten sich verbessert –, so gab es spätestens an diesem Tag nichts mehr an dem Desaster herumzudeuteln: In den letzten Wochen waren die Metastasen in Imogens Körper beängstigend rasch gewachsen.
Die Behandlungen rund um die Operation eingeschlossen, hatten sich inzwischen zehn unterschiedliche Medikamente in fünf unterschiedlichen Kombinationen an Imogens Krebserkrankung abgearbeitet. Die Magazine der Pharmazie waren leer. Eine weitere Therapie gab es nicht. Das war die ärztliche Sicht der Dinge.
Viel wichtiger war – Imogen wollte von jetzt an nicht mehr gegen den Krebs ankämpfen. Mit dieser Entscheidung gab sie sich selbst keineswegs auf. Kurz bevor wir die Pforte zur Medizinischen Klinik erreichten, nahm sie mich in den Arm und sagte: »Martin, ich werde mir anhören, was du und deine Kollegen zu sagen haben. Aber ich glaube, ich hab’ mich entschieden. Ich brauche keine Therapien gegen Krebs mehr. Ich muss herausfinden, wie ich noch ein bisschen mit ihm leben kann. Jetzt beginnt endgültig meine Zeit im Intermediärorbit.«
Wir sollten bald merken, dass das Leben in diesem Zwischenreich anderen Regeln gehorcht. Und dass es sogar Momente ungekannter Schönheit und Nähe bereithält.
Was kann ich ändern? Das Leben im Intermediärorbit
Psychotherapie heilt keinen Krebs! Auch wenn ich diesen Satz sofort unterschreiben würde, stammt er nicht von mir. Geschrieben hat ihn ein bekannter deutscher Paar- und Psychotherapeut. 14 Es gibt – trotz aller Spekulationen im letzten Kapitel – zumindest keine Beweise dafür, dass die Kraft des Geistes tatsächlich eine metastasierte Krebserkrankung noch einmal zurückdrängen oder ihr Fortschreiten auch nur verzögern könnte. 15
In dem Moment aber, wo sich der Betroffene von dem Gedanken verabschiedet, alles dem Primat der Heilung oder dem Kampf gegen den Krebs unterordnen zu müssen, erscheint alles in einem neuen, in einem anderen Licht. Wenn jetzt Dinge im Leben noch geändert werden, dann nur um des Lebens selbst willen, nicht mit dem Ziel des Kampfes gegen den Krebs. Es gilt, dem Leben mehr Qualität abzuringen. Damit verschieben sich die Maßstäbe, denn alles, was das Leben mit dem Krebs erträglicher macht, hat jetzt seine Berechtigung – völlig unabhängig von irgendwelchen objektiven Kriterien harter Wissenschaftlichkeit.
Die meisten Menschen kommen irgendwann im Verlauf ihrer Erkrankung an diesen Punkt. Bemerkenswerterweise empfinden viele diese Einsicht oft als Befreiungsschlag. Plötzlich müssen wir nicht mehr das tun, was dem Krebs das Leben erschwert, sondern was uns das Leben erleichtert und es lebenswert macht. Dieser
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