KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
die in dieser oder anderer Form viele Krebspatienten mit sich allein oder mit ihren Angehörigen durchleben. Auf den alten Steinmauern der romanischen Kapelle über dem Luganer See stellte sich Imogen die Frage nach persönlicher Schuld. Sie fragte nach ihrer Verantwortung für die Erkrankung.
Genau genommen versuchen die ersten drei Kapitel dieses Buches einzig und allein zu verdeutlichen, dass diese Frage für den Einzelfall nicht beantwortet werden kann. Und dass sie auch gar nicht beantwortet werden muss. Um zu erklären, warum Menschen an Krebs erkranken, brauchen wir die Naturwissenschaft und nichts als die Naturwissenschaft. Jeder Mensch und auch nahezu jeder andere vielzellige Organismus trägt die Disposition zum Krebs in sich. Es ist die Geschichte von Darwins Dilemma in der besten aller möglichen Welten. 10 Unser Verhalten und unsere Umwelt haben allerdings einen gewissen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, mit der Katastrophe ›Krebs‹konfrontiert zu werden. Die Veranlagung zum Krebs ist die zwangsläufige Folge der biologischen Konstruktion unseres Körpers. Ohne Mutationen unserer Gene würden wir nicht existieren.
Jeder dritte Mitteleuropäer
erkrankt im Laufe seines Lebens an Krebs – Tendenz steigend. Die Frage aber, warum gerade ein bestimmter Mensch am Krebs erkrankt, ist nicht zu beantworten. Natürlich kumulieren in jeder einzelnen Biographie Risikofaktoren, die wir oder unsere Umwelt unserem Körper zumuten; sie können die Wahrscheinlichkeit zu erkranken beeinflussen. Möglicherweise gibt es auch so etwas wie ein »gesundes« Leben, das dem entgegenwirkt und die Krebsgefahr verringert. 11 Trotzdem herrscht im Kern fast jeder Krebserkrankung der Zufall. Krebs entsteht nie zwangsläufig aus einer bestimmten genetischen oder biographischen Konstellation heraus. Eine der wenigen klar identifizierten externen Gefahrenquellen ist das Rauchen.
Irgendeine Form von klar identifizierbarem Risikoverhalten war aber nicht das, was Imogen beschäftigte. Die Mehrzahl der meist krebskranken Menschen treibt nicht diese offensichtliche, aber triviale Form von Verantwortlichkeit um. Die Frage »Warum gerade ich?« leitet oft eine grüblerische Suche nach intimeren Formen persönlicher Verantwortung ein. Je nach Weltsicht landen die Menschen auf ihrer Suche nach einer Antwort bei psychosomatischen, esoterischen oder religiösen Erklärungsmustern. Die Krankheit wird als eine Folge unbewältigter Konflikte, psychischer Traumata, unbewältigter Stressoren, negativen Denkens, destruktiver Energien, als unbewusster Todesdrang oder gar als Strafe oder Prüfung Gottes gedeutet. 12 Die Psychologen reden an dieser Stelle von subjektiven Krankheitstheorien.
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Auch Imogen suchte lange nach Wurzeln der Krankheit in ihrer Biographie. Sie wollte wissen, warum ausgerechnet sie mit gerade 35 Jahren an Brustkrebs erkrankte: »Martin, an welchem Punkt in meinem Leben habe ich die entscheidenden Fehler gemacht?« Diese Frage stellte sie mir in Lugano nicht zum ersten Mal, und diese Frage sollte uns lange begleiten, denn Imogen ging nie einer zu einfachen Antwort auf den Leim. Vom objektiven Hochsitz des Unbeteiligten aus betrachtet scheint die Lösung ebenso naheliegend wie einfach. Wir müssten nur Ockhams berühmtes Messer 13 ansetzen und die spekulativwuchernden subjektiven Krankheitstheorien einfach abschneiden, um die ebenso fruchtlose, weil vergebliche und manchmal quälende Suche nach persönlicher Verantwortung zu beenden. Die Gefahr ist in der Tat groß, dass diese Suche in endlosen, selbstquälerischen Grübeleien endet.
Das ist der Grund,
warum ich die ersten drei Kapitel dieses Buches geschrieben habe. Sie geben auf das Wesentliche verdichtet die nächtelangen Gespräche mit meiner Frau wieder. Die Lektüre soll verdeutlichen, dass wir keine Erklärung jenseits der Medizin brauchen, um zu verstehen, warum Menschen an Krebs erkranken: Es herrscht der Zufall. Er übt als Zünglein an der Waage den letztlich entscheidenden Einfluss aus. Objektiv betrachtet ist das Ereignis hinreichend erklärt, aber für denjenigen, den es trifft, muss der Gedanke unbefriedigend sein, dass letztendlich der Zufall Schicksal spielt. Auch Imogen hatte lange gebraucht, sich mit meinen Ausführungen anzufreunden. Konnte sie diese wirklich vorbehaltlos akzeptieren? Ich weiß es bis heute nicht.
Der Wunsch, den Zufall um jeden Preis zu bannen und ihn durch eine andere, zwingendere Erklärung zu ersetzen, ist ebenso
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