KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
vermehren, sie müssen sich auch zum richtigen Zeitpunkt verändern und in unterschiedliche Zelltypen ausdifferenzieren. Aus zellulären Alleskönnern (totipotenten Stammzellen) entstehen Spezialisten für verschiedenste Aufgaben: Nervenzellen, Muskelzellen, Drüsenzellen, Schleimhautzellen oder Zellen, die Bindeund Stützgewebe wie Knorpel, Knochen, Sehnen und Bänder bilden. Über 200 unterschiedliche Zelltypen bilden schließlich das unglaublich komplizierte Funktionsgefüge unseres Organismus.
Die Fähigkeit zur Zellteilung und zur Differenzierung ist weder mit der Geburt noch mit der Volljährigkeit abgeschlossen. Viele Zelltypen behalten diese Fähigkeit lebenslang. Sie ist die Bedingung für das Überleben unseres Körpers. Manche Zelltypen münden zwar tatsächlich in ein nicht mehr teilungsfähigesEndstadium, die Postmitose; die meisten anderen bilden jedoch einen Pool ständiger Selbsterneuerung, eine Art von permanentem Jungbrunnen. Die Fähigkeit zur Selbsterneuerung ist lebenswichtig. Das menschliche Herz schlägt im Lauf eines Lebens grob geschätzt 80 × 60 × 24 × 365 × 75 = 3
153
600
000 Mal. Versuchen Sie einmal auszurechnen, wie oft Ihr Kniegelenkknorpel oder Ihre Bandscheiben im Lauf Ihres Lebens verdreht, gestaucht oder sonstwie deformiert werden; oder versuchen Sie sich vorzustellen, welchem Abrieb Ihre Handflächen und Fußsohlen über die Jahre hinweg ausgesetzt sind. Kein totes Material, weder Stahl noch Stein, und schon gar kein Material organischer Herkunft wäre in der Lage, diese Belastungen über 80 oder gar 100 Jahre unbeschadet zu überstehen. Viele Gewebe regenerieren, in dem sie alternde Zellen absterben lassen und durch neu heranwachsende ersetzen. Der Zellumsatz ist oft gewaltig. Die Schleimhautzellen des menschlichen Darms werden zum Beispiel alle zwei Tage nahezu komplett ausgetauscht.
Was unterscheidet belebte Wesen von unbelebten Dingen?
Auf der Ebene der Atome besteht alles aus demselben Rohmaterial, den Elementen des Periodensystems. 1 So betrachtet sind wir Sternenstaub. Lebewesen bestehen hauptsächlich aus den Elementen Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff. Das Geheimnis des Lebendigen ist also keine Frage des Materials, sondern eher seiner Organisation. Die Suche nach diesem Geheimnis ist eines der ältesten und spannendsten Rätsel der Menschheit, so alt wie die frühesten Wurzeln wissenschaftlichen Denkens. Bis heute ist es niemandem gelungen, die Materialien der unbelebten Welt wie Bausteine so zusammenzusetzen, dass auf diese Weise Leben neu erschaffen wird. Trotzdem ist das Geheimnis des Lebendigen in seinen Grundzügen enträtselt. Das Leben entstand vermutlich nur ein einziges Mal vor sehr, sehr langer Zeit.
Nach diesem Schlüsselereignis ist mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals wieder ein Lebewesen, egal ob Einzeller oder Elefant, aus anorganischem, totem Material neu erstanden. Wesen wie Mary Shelleys Frankenstein oder der geheimnisvolle, von Rabbi Löw aus einer Mixtur aus Lehm und kabbalistischer Zauberei erschaffene Golem sind Phantasmagorien, die nur in einer Welt der Mythen und Romane vorkommen. Wir sind alle Glieder in einer schier unendlichen Kette von Lebewesen, die bis zu jener ersten Struktur in der Ursuppe zurückreicht, die in der Lage war, Kopien ihrer selbst anzufertigen. Dies geschah vor über 3,5 Milliarden Jahren. Die letzten Rätsel um diesesEreignis sind noch zu lösen. Sämtliche Nachkommen dieser ersten Replikanten sind ihre Kinder und Kindeskinder und bilden ein über Milliarden Jahre erhaltenes Kontinuum des Lebendigen. Kein geheimnisvolles fluidum vivum durchdringt sie. Niemand musste ihnen bei ihrer Zeugung das Leben neu einhauchen. Ihr Geheimnis beruht auf etwas anderem. Seit der Zeit der ersten Einzeller war es das Atom des Lebens, die Zelle, die kleinstmögliche Einheit des Lebendigen, die über diese gesamte Zeit ohne eine einzige Unterbrechung tradiert wurde.
Im 1. Kapitel habe ich erklärt, dass die Zelle ein Teil des Mikrokosmos ist. Sie ist zu klein, um sie mit bloßem Auge wahrzunehmen. Aus diesem Grund blieb sie den Ärzten und Naturforschern über die Jahrtausende verborgen. Erst als der Niederländer Antoni Leuwenhoeck (1632–1723) aus Linsen, die er selbst geschliffen hatte, einfache Mikroskope baute, öffnete er die Tür zu diesem Mikrokosmos. In diesem Moment erschloss sich der Medizin die zweite Beobachtungsebene hinter den augenfällig sichtbaren Dingen. 2 Es dauert nicht lange, bis
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