KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Gabelungen und Abzweigungen, und wenn ich nur einmal rechts statt links gegangen wäre, würde ich jetzt vielleicht in Zürich, Toronto oder Denver sitzen – mit wem auch immer.«
Imogen zögerte. »Was meinst du, hat auch Krebs so eine Biographie? Es kann doch nicht einfach nur ein einziger Schalter umgelegt worden sein, um aus mir einen potentiellen Todeskandidaten zu machen. Wenn mein Krebs auch eine Biographie hat, wie viel Zufall und wie viel Notwendigkeit stecken dann in seiner Geschichte? War ich schon ein Krebskind, dem dieVeranlagung von Anfang an in den Knochen steckte? Oder waren es drei fehlgeleitete Strahlenquanten tief aus dem Weltall, die mich damals, in bester Stimmung, im Flugzeug zwischen New York und Denver an der falschen Stelle getroffen haben? Oder irgendein Giftzeug in der Klinikplörre aus den elenden Plastikbechern oder den Tonnen von Junkfood während der unzähligen Nachtdienste – vielleicht zusammen mit ein paar von den finsteren Gedanken, die man in der sechzigsten Stunde einer Siebzig-Stunden-Woche so haben kann? Wie viele Steinchen mussten in die Waagschale gelegt werden, damit sie zu meinem Verhängnis ausschlägt?«
Imogen sah mich an und sagte leise: »Hätte der Idiot nicht vorher abbiegen können?« Ich stand auf, holte Tee und eine Flasche Rotwein. Es sollte ein langer Abend auf dem Balkon werden.
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Wir werden in diesem Kapitel zu des Pudels Kern vordringen. Aber Vorsicht! Auf der Suche nach dem Geheimnis der Krebserkrankung werden wir ein gewaltiges Gebäude durchqueren, das nach den Regeln der Biologie konstruiert ist. Um uns dort zurechtzufinden, müssen wir drei der wesentlichen Konzepte der Biologie kennenlernen. Wir müssen wissen, wie eine Zelle aufgebaut ist, um zu erfassen, was Krebs eigentlich ist. Um zu begreifen, wie Krebs entsteht, müssen wir wissen, was ein Gen ist und wie es funktioniert. Und wir sollten die Grundprinzipien der Evolution erfasst haben, um verstehen zu können, warum es Krebserkrankungen gibt.
Aber keine Angst, wir frischen dazu unsere Kenntnisse aus dem Biologieunterricht auf, und schon haben wir einen ziemlich verlässlichen Kompass. Im Übrigen lohnt dieser Exkurs. Er führt nicht nur dorthin, wo eine Krebserkrankung entsteht. Er verrät auch einiges über das Geheimnis des Lebens selbst. Obwohl das, was wir über die Biologie der Zellen und der großen Moleküle wissen, größtenteils erst im letzten halben Jahrhundert entschlüsselt wurde und der menschliche Organismus das bei Weitem komplizierteste Gebilde ist, das wir im Universum kennen, sind die Grundprinzipien des Lebens doch oft von beeindruckender eleganter Einfachheit. Am Kapitelende wird aus den verwirrenden Puzzle-Teilen, die scheinbar nicht zueinanderpassen, hoffentlich ein schlüssiges Bild entstanden sein.
Die Atome des Lebens
In den Stunden nach dem Liebesakt, wenn die Partner erschöpft zurücksinken und vollkommen entspannt eindämmern, spielt sich im Körper der Frau ein dramatisches Rennen ab. Millionen von Spermien liefern sich einen rücksichtslosen Wettlauf durch die Scheide hinauf, den Gebärmutterhals, in die Gebärmutter und weiter in die Eileiter. War der Zeitpunkt glücklich (oder unglücklich) gewählt, dann eilt ihnen von oben aus den Eierstöcken eine Eizelle entgegen (oder tut dies gerade nicht). Das schnellste Spermium trifft schließlich auf die Eizelle, und beide verschmelzen zu einer neuen Zelle, der Zygote.
Was dann geschieht, kann mit Fug und Recht als Wunder bezeichnet werden, dessen Wirkung wir auch heute noch kaum ermessen können, obgleich wir viele Nuancen dieses Wunders bereits entschlüsselt haben: Die befruchtete Eizelle beginnt, sich zu teilen. Es entstehen zwei Tochterzellen, bei der nächsten Zellteilung sind es dann schon vier Zellen, dann acht, 16, 32 und so weiter und so fort. In nur 40 Wochen entsteht aus einer winzigen, Bruchteile eines Millimeters messenden Zygote ein kompletter und lebensfähiger Mensch. Der fertige menschliche Organismus besteht aus über 30 Billionen (30
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Aber das Wunder wirkt weiter,
denn bei dieser unglaublichen Zellvermehrung entsteht keineswegs ein unförmiger, undifferenzierter 4 Kilogramm-Zellklumpen langweiliger Gleichförmigkeit, sondern ein hochkomplexer und sehr differenzierter Organismus. Das bedeutet, die Zellen müssen sich während der Entwicklung von Embryo und Fetus nicht nur unausgesetzt
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