KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
um vollkommen unterschiedliche Erkrankungen handeln, die lediglich »zufällig« eine sehr ähnliche Erscheinungsform haben.
Die Evolutionsbiologen haben den Begriff Koevolution geprägt.
Unter dem Einfluss vergleichbarer Umweltbedingungen können sich aus völlig unterschiedlichen Vorfahren Arten entwickeln, die sich äußerlich sehr ähnlich sind, ohne biologisch miteinander verwandt zu sein. Der trügerische Schein des ersten Blicks führte tatsächlich zu zahlreichen irreführenden Art- und Gattungsbezeichnungen. Beutelratten haben mit Ratten weniger gemeinsam als Hunde mit Katzen, und der tasmanische Beutelwolf steht dem Känguru sehr viel näher als seinem Namensvetter, dem europäischen Wolf.
Sind etwa der Lungenkrebs des Rauchers und der Schilddrüsenkrebs der Kinder von Tschernobyl genau so wenig verwandt wie Haifisch und Delphin? Hätte der Darmkrebs einer erblich vorbelasteten Frau mit dem Gebärmutterhalskrebs, den Papillom-Viren auslösen, so viel zu tun wie ein Aal mit einer Seeschlange? Träfe diese resignative Schlussfolgerung zu, so sollten wir denBegriff Krebserkrankung am besten schnell beerdigen, weil er Dinge zusammenführt, die nicht zusammengehören.
So verlockend diese Schlussfolgerung vielleicht klingt, so wenig plausibel ist sie beim Blick auf die klinischen Ähnlichkeiten zwischen den Erkrankungen. Es gibt auch eine konstruktivere Interpretation der verwirrenden Gemengelage. Diese Interpretation geht von der Existenz einer tiefer liegenden Erklärungsebene aus. Auf dieser Ebene sollten sämtliche disparaten Befunde zu einer kohärenten Theorie des Krebses zusammenkommen. Dort würden alle potentiellen Auslöser in ein übergeordnetes kausales Prinzip münden.
Auch wenn die oben genannten Verdächtigen (Gift, Strahlung, Infektion, Vererbung) unterschiedlicher kaum sein könnten, weist der Tathergang bei allen vieren erstaunliche Ähnlichkeiten auf: Allen Faktoren ist gemeinsam, dass sie weder unbedingt notwendig noch in jedem Fall hinreichend sind, um eine Krebserkrankung auszulösen. Es gibt unzählige Individuen, die den entsprechenden Risikofaktoren ausgesetzt sind, ohne zu erkranken. Sollte eine Art individueller Zufallsgenerator zwischen Ursache und Wirkung geschaltet sein? Verfügen manche Individuen über effektivere Mechanismen zur Kompensation der genannten Risikofaktoren als andere? Beides könnte der Fall sein.
Auch die lange Latenzzeit zwischen Ursache und Wirkung ist ein Hinweis darauf, dass zwischen der entsprechenden Noxe (Schädigung) und der Entstehung einer Krebserkrankung eine Art biologischer Integrator existieren muss, der die Einflüsse der unterschiedlichsten externen und internen Risikofaktoren auf sich vereint und seinerseits noch moduliert.
Das folgende Kapitel berichtet von der Jagd nach diesem missing link . Wir suchen in unserem Körper nach einer Struktur, in der sich vererbbare Eigenschaften mit der Wirkung von chemischen Substanzen, Viren und physikalischen Faktoren kreuzen und dort fatale Fußabdrücke hinterlassen.
2. Kapitel
Der Kern des unheimlichen Phänomens – Wie und wo entsteht Krebs?
Mittwoch, 11. Juni 2008
M artin, was glaubst du, wann es losging? War es damals in den vielen durchwachten Nächten in der Charité, wenn mir seit mehr als 14 Stunden immer noch die gleichen OP-Klamotten am Körper klebten, weil Berlin, der Moloch, seit dem Morgen eine endlose Kette immer neuer Unglücksraben in meine Notaufnahme gespült hat? War es im Hamsterrad der ständigen Wochenenddienste, als die Welt mit den Stunden in der Klinik immer mehr zum Tunnel wurde, verengt auf die Flure der Unfallchirurgie und ausgeleuchtet mit Neon? Oder war es schon viel früher, als ich Hightime hatte? Hat das kleine böse Rattentier schon genagt und gewühlt, als ich noch auf den Wellen des Snake River oder im Pulverschnee von Wyoming getanzt habe?«
Wir saßen bei einer Tasse grünem Tee auf dem Balkon unserer Tübinger Wohnung. Die schwarze Silhouette der Schwäbischen Alb verschmolz immer mehr mit dem verglimmenden Abendrot.
»Vor nicht mal einem Jahr sind wir hier eingezogen, unsere erste gemeinsame Wohnung. Mir wird fast schwindlig, wenn ich daran denke, wie viele zufällige kleine Fetzen miteinander zu dem Faden verknotet werden mussten, der mich hierher geführt hat. Vor drei Jahren saß ich noch in Berlin, kannte weder dich noch Tübingen noch das kleine blonde Wesen, das da oben in seinem Bett liegt und endlich eingeschlafen ist. Dazwischen lagen so viele
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