KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Form und Funktion nahezu identische Tochterzellen.Nach einer kurzen Verschnaufpause kann die Zelle das Spiel ziemlich oft, manche Zelltypen sogar unbegrenzt oft wiederholen, ohne dass sich der Prozess abnutzt. Und dafür muss niemand eine Schere in die Hand nehmen. Die Teilung einer Zelle ist ein aktiver Prozess, der in der Zelle selbst eingeleitet wird. Manchmal liefert allerdings die Umgebung Signale, die diesen Prozess anstoßen können.
Zellen teilen sich nicht nur. Bei einer Zellteilung entstehen zwei detailgetreue Reproduktionen des Originals. Das Geheimnis dieser reproduktiven Form der Teilung liegt im Zellkern. Der Zellkern ist der prominenteste Teil einer Zelle. Er ist auch unter dem Lichtmikroskop deutlich zu erkennen. Wie eine Zelle in der Zelle ist er von der Umgebung durch eine Kernmembran abgegrenzt und mit einer dicht bepackten Substanz angefüllt, die sich gut anfärben lässt und beim Blick durchs Mikroskop sofort ins Auge sticht. Diese Substanz wurde daher Chromatin genannt.
Unter dem Mikroskop zeigt sich, dass sich das scheinbar gleichförmige Chromatin kurz vor einer Zellteilung verändert. Es kondensiert und ordnet sich zu einzelnen dichten, X-förmigen Paketen, den Chromosomen. In menschlichen Zellen finden sich 23 Chromosomenpaare, also insgesamt 46 einzelne Chromosomen. Die Funktion des Zellkerns und die chemische Natur des Chromatins lagen lange im Dunkeln.
Eine erste Annäherung an den ominösen Inhalt des Zellkerns
fand bemerkenswerterweise keine 300 Meter entfernt von meinem Tübinger Elternhaus statt. Dort, wo ich zu Schülerzeiten mit meinen Freunden durch verrostete Türen im Schlossgraben in die dunklen Keller und Kammern des alten Gemäuers vordrang, um mitternächtliche Feste zu feiern, war 130 Jahre zuvor eine der Keimzellen einer neuen Wissenschaft untergebracht. In der alten Schlossküche des spätmittelalterlichen Schlosses Hohentübingen befand sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Labor für Physiologische Chemie der Tübinger Universität, eine der ersten Einrichtungen dieser Art weltweit.
In diesen Laboratorien arbeitete der Schweizer Friedrich Miescher (1844– 1895). Er hatte sich in den Kopf gesetzt, der Chemie des Chromatins auf den Grund zu gehen. Zu diesem Zweck besorgte er sich Massen von eitrigen Verbänden aus dem Abfall der Tübinger Kliniken. Dieses unappetitliche Ausgangsmaterial war ideal, denn es war voll mit weißen Blutkörperchen. Aus den Kernen dieser Zellen isolierte er 1869 eine Substanz, die sich durch ihren hohen Gehalt an Phosphor deutlich von den bereits bekannten Proteinen unterschied. Die Substanz überstand auch mehrere chemische Prozeduren, die Eiweiße normalerweise zerstören.
Abbildung 3: Schloss Hohentübingen mit Schlossküche und dem Labor Friedrich Mieschers.
Am 26. Februar 1869 berichtete Friedrich Miescher in einem Brief an seinen Onkel Wilhelm His von seiner Entdeckung: »Bei dem Versuche mit schwach alkalischen Flüssigkeiten bekam ich aus den Lösungen durch Neutralisation Niederschläge, die weder in Wasser, noch in Essigsäure, noch in sehr verdünnter Salzsäure, noch in Kochsalzlösung löslich waren, folglich keinem der bis jetzt bekannten Eiweißstoffe angehören.«
Schon damals erkannte Miescher,
dass er eine völlig neue biologische Verbindung entdeckt hatte. Er nannte sie »Nuclein« nach dem lateinischen Wort nucleus (Kern). Fünf Jahre später, 1874, publizierte er weitere Ergebnisse über das Vorkommen von Nuklein» in den Spermien verschiedener Wirbeltiere. Miescher schien zu ahnen, dass der neue Stoff eine wichtige Rolle beider Vererbung spielen könnte. Er schrieb: »Sofern wir (…) annehmen wollten, dass eine einzelne Substanz (…) auf irgendeine Art (…) die spezifische Ursache der Befruchtung sei, so müsste man ohne Zweifel vor allem an das Nuklein denken.« Miescher äußert seine Vermutung sehr vorsichtig, denn er konnte sich nicht vorstellen, wie sich die gesamte Mannigfaltigkeit der Tier- und Pflanzenreiche auf die Variationen eines einzigen Molekültyps reduzieren lassen sollten. Es dauerte noch fast 100 Jahre, bis klar wurde, wie das vonstattengehen kann. 8
Die wenigsten Wissenschaftler nahmen Mieschers Vermutung ernst. Trotzdem interessierten sich einige für die Details der chemischen Beschaffenheit der neuen Substanz. Albrecht Kossel (1853–1927) entdeckte, dass Nuklein aus den oben beschriebenen vier verschiedenen Bausteinen, den Nukleosiden, und aus Zuckermolekülen aufgebaut ist.
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