KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Weil das große Molekül sich chemisch wie eine Säure verhielt, gab ihm 1889 Richard Altmann (1852–1900) schließlich die heute gültige Bezeichnung Nukleinsäure. Erst 1929 entschlüsselte Phoebus Levene (1869–1940) das vollständige chemische Alphabet der Nukleinsäure und entdeckte, dass sie aus Desoxyribose, Phosphorsäureresten und den vier Basen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin besteht. Er prägte schließlich auch den Begriff Nukleotid für die elementaren Dreier-Baueinheiten (Base + Zucker + Phosphorsäure), aus denen die langen Nukleinsäure-Ketten bestehen.
Im Vergleich zur den kompliziert strukturierten und vielfältigen Proteinen war der chemische Aufbau der Nukleinsäuren eher unspektakulär. Miescher hatte ein riesiges, ziemlich monoton aufgebautes Kettenmolekül mit vier unterschiedlichen Kettengliedern entdeckt und einer scheinbar regellosen Anordnung der Basen Adenin (A), Guanin (G), Cytosin (C) und Thymin (T). Die Nukleoside oder Nukleotide sind wie Perlen an einer Schnur oder wie Buchstaben in einem Text angeordnet (vgl. Abbildung 4).
Kaum jemand nahm Ende der zwanziger Jahre ernsthaft an, dass dieses zwar riesige, aber vergleichsweise einfache Molekül tatsächlich der Träger der Erbinformation war. Warum sollte ausgerechnet ein Molekül mit einem höchst begrenzten Alphabet von nur vier verschiedenen Bausteinen das lange gesuchte materielle Substrat der legendären Mendelschen Elemente sein? Noch 80 Jahre nach ihrer Entdeckung fristeten die Nukleinsäuren ein wissenschaftliches Schattendasein. Obwohl die Genetik, also die Lehre von den vererbbaren Eigenschaften von Organismen, seit der Wiederentdeckung derMendelschen Regeln um das Jahr 1900 einen rasanten Aufschwung erlebte, nahm kaum jemand Notiz von Mieschers Riesenmolekülen.
Ein erstes indirektes Indiz
für ihre Bedeutung lieferte Anfang des 20. Jahrhunderts der berühmte Würzburger Biologe Theodor Boveri (1862–1915). Schon länger war bekannt, dass bei der Kreuzung zweier Arten die Hybride zu gleichen Teilen väterliche und mütterliche Eigenschaften aufweisen. Die Spermien, die die väterlichen Eigenschaften transportieren, bestehen aber fast nur aus Zellkern und haben kaum Zytoplasma. Das inspirierte Boveri zu einem raffinierten Experiment. Er entfernte die Zellkerne aus den Eizellen einer bestimmten Seeigel-Art. Diese mütterlichen, kernlosen Zytoplasma-Klümpchen befruchtete er dann mit den Spermien einer anderen Seeigelart. Tatsächlich wuchsen gesunde junge Seeigel heran. Diese Kinder wiesen ausschließlich Eigenschaften ihres Vaters, nicht aber der Mutter auf – ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Zellkern die entscheidenden Erbinformationen enthält.
Nun war Boveri sich damals nicht über die chemische Natur und Funktionsweise der Erbinformation im Klaren. Erst 40 Jahre später verdichteten sich die Hinweise, dass die Nukleinsäuren der Stoff sein könnten, aus dem die Träume der Genetiker gemacht sind. Die Fortsetzung der Geschichte spielt allerdings nicht in verträumt-verschlafenen Städtchen wie Tübingen oder Würzburg, sondern in New York, der Megastadt des 20. Jahrhunderts, und zwar im Jahr 1944. Der Zweite Weltkrieg war gerade in seiner entscheidenden Phase, die Welt schien unterzugehen als Oswald Avery (1877–1955) von einem Problem umgetrieben wurde, das in solchen Zeiten lebensfremd, ja fast transzendental anmutete. Mitten im Zweiten Weltkrieg ging Avery in seinem Labor an der New Yorker Rockefeller University der Frage nach, ob die Nukleinsäuren ein Vehikel sein könnten, das Erbinformationen von einem Bakterium auf ein anderes transportiert.
Averys Experiment ist ein Klassiker der Biologie.
Es zeigt, dass fundamentale und hartnäckige Fragen manchmal durch verblüffend einfache experimentelle Konzepte zu lösen sind. Allerdings scheitert oft auch ein scheinbar einfaches experimentelles Konzept an der technischen Umsetzbarkeit. Die Natur scheint ihre Geheimnisse nicht gern preiszugeben. Laborforscher müssen daher sehr frustrationstolerante Menschen sein. Avery arbeitete mit zwei unterschiedlichen Stämmen von Pneumokokken, einer recht weitverbreiteten Bakterienart. Der eine Bakterienstamm bildet auf geeignetem Nährboden rauhe, der andere glatte Kolonien aus. Das Schöne an diesen Stämmen und an demKriterium der »Kolonieform« war, dass sich diese Eigenschaft – der Phänotyp, auf den es Avery ankam – leicht mit bloßem Auge zu beobachten war. Avery fand heraus, dass sich durch die
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