KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Optimierungsproblem: Sie steht im Spannungsfeld zwischen S tabilität und Variation. Ohne eine gewisse Fehlerquote bei der Weitergabe der genetischen Texte – ohne Mutationen – hätten sich aus Einzellern nie Wesen wie wir Menschen entwickeln können. Andererseits ist es für alle komplexeren Lebewesen überlebensnotwendig, ihr Genom fehlerfrei an die Nachkommen zu übermitteln. Vielzeller benötigen außerdem wirksame Instrumente, um die vielen unterschiedlichen Zellen des Organismus einzubinden und in den Dienst des großen Ganzen zu stellen.
Mutieren Gene in den Keimzellen, kann das dazu führen, dass die Nachkommen erkranken oder nicht überlebensfähig sind. Verursachen Mutationen Gendefekte in Körperzellen, ist das oft belanglos und hat keinerlei Folgen. Einzelne defekte Zellen können leicht ersetzt werden.
Es gibt aber eine wichtige Ausnahme! Wenn solche somatischen Mutationen der betreffenden Zelle nicht Nachteile, sondern im Gegenteil Wachstumsvorteile verschaffen, können sie für den Organismus äußerst problematisch werden. Sobald Defekte in den Genen auftreten, die zum Apparat der Wachstumskontrolle gehören, können die Folgen fatal sein. Solche Defekte lassen die Zellen unter Umständen ihre über Generationen antrainierte Selbstlosigkeit vergessen. Die betroffenen Zellen entwickeln sich wieder zu den zellulären Egoisten zurück, die ihre einzelligen Vorfahren einmal waren. Sie fangen an, sich unkontrolliert und ohne Rücksicht auf Verluste zu teilen.
Krebs ist die Wiedergeburt des zellulären Egoismus.
Damit sind wir also bei der Definition der Krebserkrankung gelandet. Krebserkrankungen sindKrankheiten, die durch Mutationen kritischer Gene verursacht werden. Diese Mutationen betreffen Gene, die für die Wachstumskontrolle zuständig sind, und sie führen zur unkontrollierten Vermehrung der betroffenen Zelle. Die Erkrankung nimmt ihren Ausgang (fast) immer von einer einzigen Zelle, wenn diese hinreichend viele kritische Mutationen akkumuliert hat. Tief im Innern der Zelle, im Zellkern, haben wir die Ebene gefunden, auf der alle Fäden zusammenlaufen. Die Mutation kritischer Gene ist der Mechanismus, der hinter jeder Krebserkrankung steckt. In den Genen vereinigen sich die vielen scheinbar widersprüchlichen Auslöser von Krebs in einem einzigen, gemeinsamen Prinzip.
Im darwinistischen Zwiespalt zwischen Veränderung und Stabilität neigt sich die Waagschale weit zugunsten der Stabilität. Wir haben gesehen, dass wir mit den Schimpansen über 95 Prozent des genetischen Textes teilen. Von unseren Mitmenschen, ganz gleich ob sie aus der Nachbarschaft oder aus Sizilien, Norwegen oder Papua-Neuguinea stammen, unterscheiden wir uns in gerade nur 0,1 Prozent aller DNA-Bausteine. Diese lächerlichen 0,1 Prozent sind also für sämtliche genetischen Unterschiede zwischen den Menschen auf unserem Planeten verantwortlich.
Das Wunder der genetischen Stabilität
scheint umso größer, wenn wir uns die schiere Masse des kopierten Materials und die Geschwindigkeit des Kopiervorgangs vor Augen führen. In jeder Zelle werden über 3 Milliarden Basenpaare verdoppelt. Wenn ein Nukleotid pro Sekunde abgelesen und kopiert würde, wäre der Vorgang der DNA-Replikation in etwa 203 Jahren abgeschlossen. Tatsächlich braucht die Zelle dafür nur knapp eine halbe Stunde. Zu jeder Minute unseres Lebens wird in vielen Milliarden Zellen gleichzeitig der komplette genetische Text einmal abgeschrieben. Im Lauf eines Menschenlebens werden in unserem Körper viele Billionen Mal 3 Milliarden Basenpaare kopiert. Mit diesen Zahlen vor Augen kann es einen nur wundern, dass so selten Fehler entstehen.
Dabei liegt unser Genom im Zellkern keineswegs sicher wie in einem Schweizer Tresor – im Gegenteil. Das Innere der Zelle ist ein chemisch hoch aggressives Milieu. Ständig werden äußerst reaktionsfähige Moleküle, freie Radikale, sogenannte reaktive Sauerstoffspezies, Säuren und Basen produziert. Alle diese Substanzen sind Stoffe, die Nukleotide oxidieren oder reduzieren und dabei Teile des Moleküls entfernen oder andere Teile anhängen können.
Eine Veränderung der chemischen Gestalt eines DNA-Bausteins kann Lesefehler provozieren und Fehlpaarungen von Nukleotiden begünstigen. So können sogar Strangbrüche und Abbrüche der Kette entstehen. Auch ohne jedes Zutun von außen ist die Struktur der DNA also nicht auf ewig in Marmor gemeißelt. Experimente zeigen, dass bei einer Milliarde kopierter Basen etwa einmal ein
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