KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
unter Beschuss genommen wird, bezogenauf die einzelne Zelle führen Mutationen nicht zwangsläufig zum Krebs. Aber das Risiko der Verwandlung in eine Krebszelle steigt mit der Anzahl der Mutationen in einer Zelle. 24
Noch eine weitere Komponente erschwert Voraussagen im Einzelfall. Jeder Mensch scheint Systeme in sich zu tragen, die Mutationen teilweise kompensieren können. 25 Die individuelle Leistungsfähigkeit dieser individuellen Systeme schwankt, so wie die Menschen unterschiedlich groß, kräftig oder flink sind. Der 100-jährige Urgroßvater, der sein Leben lang Kette rauchte, mag tatsächlich nicht nur individuelles Glück gehabt haben. Vielleicht verfügte er über eine genetische Ausstattung, die Fehler in der DNA überdurchschnittlich effektiv wieder ausbügeln konnte. Solange wir aber die funktionelle Bedeutung unserer individuellen genetischen Ausstattung nicht kennen – was vielleicht auch so bleiben sollte –, sollten sich andere Raucher den glücklichen Urgroßvater nicht zum Vorbild nehmen. Sie spielen Russisches Roulette.
Beim Russischen Roulette bekommt der Spieler die Folgen seines Tuns allerdings unmittelbar zu spüren. Der Raucher wird mit den Konsequenzen seiner Sucht erst mit einer Verzögerung von 20–40 Jahren konfrontiert. Die lange Latenzzeit zwischen der Einwirkung eines Schadstoffs (einer Noxe) und dem Ausbruch der Erkrankung charakterisiert sämtliche Krebserkrankungen ganz allgemein.
Um dieses Phänomen der Latenz
zu verstehen, müssen wir genauer hinsehen, was onkogene Mutationen in einer Zelle eigentlich anrichten. Im nächsten Kapitel wird es deshalb um Gaspedale und Bremsen gehen und darum, wie die Produkte der mutierten Gene das Leben einer Zelle verändern. Es geht um die Mechanismen, die eine Zelle, die über Jahrmillionen zum loyalen Diener des Körpers erzogen wurde, in wenigen Jahren wieder in einen rücksichtslosen Egoisten zurückverwandeln. Die Suche nach diesen Mechanismen ist kein akademisches Glasperlenspiel. Sie hilft abzuschätzen, wie sich Krebszellen im Körper verhalten. Vor allem aber ist die Erforschung dieser Mechanismen getrieben von dem Wunsch, endlich die Achillesferse des Krebses zu finden, um ihn wirkungsvoller als bisher bekämpfen zu können.
Die Multi-Mutationen-Theorie oder: Wie viele Schritte sind es bis zur Grenze?
Im Prinzip scheint das Krebsrätsel gelöst. Eine kurze Zwischenbilanz: Wir haben Gene kennengelernt, deren Produkte die Zellteilung regulieren. Wir haben gesehen, wie sie arbeiten, und wir haben gelernt, dass Mutationen eines solchen Gens zur unkontrollierten Überaktivität des Genprodukts führen können. Am Beispiel von ras habe ich beschrieben, wie eine solche Überaktivitätzur unkontrollierten Zellteilung und letztendlich zur Krebserkrankung führen kann. Auch ohne jedes Zutun von außen besteht in jeder Zelle zu jeder Zeit eine gewisse Gefahr, dass solche kritischen Mutationen spontan entstehen.
Wir wissen, dass eine Reihe äußerer Faktoren, etwa Strahlung oder bestimmte Chemikalien, das Risiko solcher Mutationen deutlich erhöhen kann. Außerdem habe ich Viren vorgestellt, die Krebsgene in ihrem Erbgut mit sich führen und in befallene Zellen einschleusen können. Manche davon haben solche Gene vor vielen Virusgenerationen aus dem Genom ihrer Wirtstiere entführt und so verändert, dass sie zu viralen Onkogenen wurden. Wenn solche Viren einen neuen Wirt infizieren, können diese Gene unter Umständen wieder in eine Wirtszelle eingebaut werden und dort die Entstehung von Krebszellen begünstigen. Damit sind viele Fragen beantwortet, die ich im 1. und 2. Kapitel aufgeworfen habe. Trotzdem sind nicht alle Eigenschaften von Krebszellen und Krebserkrankungen durch einzelne Mutationen in Genen vom ras- oder src-Typ zu erklären.
Krebs ist eine typische Erkrankung des Alters
. Karzinome treten ausgesprochen selten vor dem 40. Lebensjahr auf. Bei den meisten Krebserkrankungen steigt das Risiko zu erkranken zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr exponentiell an. Wenn Krebs die Folge einer einzigen, zufälligen Genmutation wäre, dann wäre diese Art der Altersabhängigkeit nicht zu verstehen. Umgekehrt treten einige seltene Krebserkrankungen fast nur bei Kindern und Jugendlichen auf. Diese Beobachtungen, wie auch das Phänomen der familiären Häufung mancher Krebserkrankungen, sind allein vor dem Hintergrund der Mutation einzelner Gene nicht zu verstehen. Jeder Arzt kennt die Verwüstungen, die manche Krebserkrankungen im Körper
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