KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
anrichten können. Vieles davon ist nicht allein dadurch zu erklären, dass sich Tumorzellen schneller und unkontrollierter teilen als gesunde Zellen. Leider haben sie noch andere unangenehme Eigenschaften, deren genetische Grundlagen wir im letzten Teil dieses Kapitels kennenlernen werden.
Das Problem des Zusammenhangs zwischen Lebensalter und Erkrankungsrisiko beschäftigte einige mathematisch orientierte Krebsforscher lange, bevor die ersten menschlichen Krebsgene entdeckt wurden. Ohne die genetischen Mechanismen zu kennen, hegten sie schon in den 1950er Jahren einen Verdacht: Krebs muss die Folge einer Akkumulation mehrerer kritischer Veränderungen sein.
Übersetzt in die Vorstellungen der Genetik bedeutet das:
Für die Verwandlung in eine Krebszelle reicht eine einzelne Mutation nicht aus. Eine Zelle muss mehrere Mutationen in unterschiedlichen Genen ansammeln, um sich in eine Krebszelle zu verwandeln. Diese Theorie der multiplen Treffer wurde zunächst von dem Schweden Carl O. Nordling vertreten. Nordling bemerkte Anfang der fünfziger Jahre, dass in den Industrienationen die Häufigkeit von Krebserkrankungen mit dem Lebensalter der Betroffenen nicht linear, sondern exponentiell zunimmt. Diese Beziehung verleitete ihn zu der Annahme, dass zur Entstehung eines Tumors mehrere aufeinander folgende Mutationen notwendig sind.
Ras oder src scheinen keine Einzeltäter zu sein. Damit stellt sich die Frage, welche genetischen Komplizen diesen typischen Onkogenen zur Hand gehen müssen, um loyale Körperzellen in rücksichtslose Krebszellen zu verwandeln.
Defekte Bremsen und schlafende Torwächter
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, war Theodor Boveri mit zeitloseren Dingen beschäftigt. Er veröffentlichte in diesem Jahr ein Buch mit dem Titel Zur Frage der Entstehung maligner Tumoren. Darin stellte er einige überaus hellsichtige Prognosen an, die erst viele Jahrzehnte später durch die Molekularbiologie bestätigt wurden. 29 Boveri konnte noch keine Vorstellung von der tatsächlichen Natur und Gestalt der Gene haben und bezog daher die zellulären Veränderungen, die zum Krebs führten, auf das, was er beobachten konnte, die Chromosomen. Ersetzt man den Begriff Chromosomen in seinem Buch durch den modernen Begriff Gen, sind viele seiner Voraussagen nicht nur ausgesprochen visionär, sondern auch erstaunlich nah an der Realität. Unter anderem stellte Boveri die Hypothese auf, dass in Krebszellen nicht nur »teilungsfördernde Chromosomen« am Werke seien, sondern auch, dass ihnen »teilungshemmende Chromosomen« abhanden gekommen sein müssen.
Fast 65 Jahre später erhielt die Vermutung
von den teilungshemmenden Genen neuen Auftrieb. Dieses Mal war es keine spektakuläre Entdeckung aus den Laboratorien, sondern eine am grünen Tisch erarbeitete Idee. Der Amerikaner Alfred Knudson führte Nordlings Theorie von den multiplen Treffern und Boveris Konzept von den »teilungshemmenden Chromosomen« zusammen. Knudson beschäftigte sich mit einem Exoten der Onkologie, den ichschon im 1. Kapitel beschrieben habe. 30 Im Jahr 1971 analysierte er 48 Fälle von Kindern mit Retinoblastomen, der ausgesprochen seltenen, bösartigen Tumorerkrankung der Netzhaut des Auges. Retinoblastome brechen gleich mit mehreren Regeln, die für Krebserkrankungen üblicherweise gelten. Erstens trifft das Retinoblastom fast ausschließlich Kleinkinder. Zweitens sind bei immerhin 25–30 Prozent der Erkrankungen beide Augen gleichzeitig betroffen – was schwer mit der Vorstellung in Einklang zu bringen ist, Krebs entstünde durch zufällige Akkumulation kritischer Veränderungen in einer einzigen Zelle.
Knudson analysierte die relativen Häufigkeiten von ein- oder beidseitig auftretenden Tumoren sowie die Familienstammbäume der jeweiligen Kinder. Es war schon lange bekannt, dass es sich bei einem Teil der Retinoblastome um »erbliche« Krebserkrankungen handelte. 31 Er bezog die Häufigkeitsverteilung uni- und bilateraler Tumoren auf die Fälle, die sporadisch oder familiär gehäuft auftraten, und kam mit einigen statistischen Kniffen zu der Schlussfolgerung, dass eine Mutation beider Allele (Kopien) eines Gens für die Entstehung eines Retinoblastoms notwendig sein muss. Knudson fiel außerdem auf, dass das Ersterkrankungsalter der Kinder im Falle der vererblichen Form der Erkrankung geringer war und nur diese Kinder einen Tumor an beiden Augen entwickelten. Die erblichen und dabei insbesondere die bilateralen Fälle waren nach seiner
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